Dokumentation Veranstaltungsreihe „30/89: DDR – Geschichte und Gegenwart“

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14.06.2019

«Staat und Gesellschaft in der DDR»

Von Dr. Steffen Kachel (Historiker, Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen und Vorsitzender der Partei DIE LINKE Erfurt)

Fragen zu „Staat und Gesellschaft in der DDR“ standen im Mittelpunkt der zweiten Diskussionsrunde im Rahmen der Veranstaltungsreihe „30/´89: DDR – Geschichte und Gegenwart“, die gemeinsam von der „Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen“ und der „Professur für Strukturanalyse moderner Gesellschaften“ der „Staatswissenschaftlichen Fakultät“ der Universität Erfurt organisiert wird. Das Ziel der vierteiligen Reihe 70 Jahre nach der Gründung und knapp 30 Jahre nach dem Ende des Staates: Der Versuch einer Bilanz der DDR-Geschichte.

Aus wissenschaftlicher Perspektive sprach Professorin Dr. Rosemarie Will, die in der Wendezeit die PDS am zentralen „Runden Tisch“, einem wesentlichen Machtorgan des Übergangs, vertrat und sich in den letzten Jahren als Juristin mit der Frage der Anwendbarkeit rechtsstaatlicher Kriterien auf die DDR beschäftigt hat. Von 1996 bis 2006 war sie zudem Verfassungsrichterin des Landes Brandenburg. Außerdem referierte Dr. Felix Mühlberg (Potsdam) zum Eingaben- und Beschwerdewesen der DDR. Er veröffentlichte 2004 die Studie „Bürger, Bitten und Behörden. Geschichte der Eingabe in der DDR“, vgl.: www.rosalux.de/publikation/id/2987/buerger-bitten-und-behoerden/). Er zog aus den untersuchten Eingaben Rückschlüsse auf die Funktionsweise des Systems im Verhältnis zwischen Staat und Bevölkerung und auf Veränderungen zwischen ihnen. Als Zeitzeugin gab Renate Lützkendorf, die vor 1988 Umweltarbeit beim „Kulturbund“ der DDR leistete und seit den ´80er Jahren in der „Offenen Arbeit“ der Evangelischen Kirchen in Erfurt aktiv ist, Einblicke in die Entscheidungen junger Menschen, im System nach Möglichkeiten selbstbestimmter politischer Betätigung zu suchen.

Verfassungen der DDR

Professorin Dr. Will begann mit einer kurzen Darstellung der drei Verfassungen, die die DDR-Entwicklung begleiteten. Die erste (07.10.1949) war als Vorschlag für eine gesamtdeutsche Verfassung intendiert und lehnte sich in verschiedenen Punkten an die Reichsverfassung von 1919 an. Dabei blieb der Anschluss an rechtsstaatliche Züge bürgerlicher Verfasstheit inkonsequent. Es gab zwar einen Grundrechtsteil, dieser begründete aber keine individuellen Ansprüche. Andererseits wurde das Prinzip der Gewalteneinheit in die Verfassung aufgenommen und damit dem Prinzip der Gewaltentrennung eine Absage erteilt. Eine Verwaltungsgerichtsbarkeit war nicht zugelassen, obwohl dieser Gedanke nach dem Krieg (1946-´48) auch von einer Reihe prosozialistischer Juristen in Ostdeutschland verfolgt worden war. Insgesamt, so sagte es Dr. Will, bildete sich die gesellschaftliche Realität der DDR, die sich bis 1952 (Aufhebung der Länder) entwickelt hatte, in ihrer ersten Verfassung nicht ab. Es fehlten zum Beispiel die durchgreifende Zentralisierung der Staatsgewalt und der klare Bezug auf die Rolle der Staatspartei. 1968 wurde die neue, sozialistische Verfassung nach einer umfassenden Aussprache im Zuge einer Volksabstimmung angenommen. Sie beschrieb die im wirtschaftlichen und politischen System eingetretenen Änderungen. Anstelle von individuellen Rechten der Staatsbürger*innen definierte sie kollektiv verstandene Rechte und Pflichten. „Anstelle der alten Prinzipien Freiheit, Gleichheit, Eigentum standen nun Mitgestaltung, Arbeit und Bildung“, beschrieb Professorin Dr. Will. „Grundrechte gab es nicht aus sich heraus, sie wurden an Grundpflichten gebunden. Die Führungsrolle der SED wurde in die Verfassung geschrieben, aber nicht, was das konkret bedeutet und wo diese endet.“ Die Verfassung von 1968 habe der SED auf diese Weise eine „Kompetenzkompetenz“ übertragen; das heißt, dass sie staatliche Kompetenzen an sich ziehen und neue schaffen konnte. Dabei fungierte das „Politbüro“ als Zentrum der Entscheidungsrechte. Interessant war, dass die Verfassung im ganzen Land in öffentlichen Foren diskutiert wurde. Sie hatte hohe Publizität und wurde schließlich mit Volksentscheid angenommen.

Ganz anders 1974, als Erich Honecker beschloss, dass die DDR eine neue Verfassung brauche. Dafür wurde die alte Verfassung von einem kleinen Experten- und Parteigremium quasi über Nacht novelliert. Im staatsorganisatorischen Teil zog diese Verfassung die Abwertung des Ministerrats - der eigentlichen staatlichen Regierung - nach sich. Der Staatsrat als übergeordnetes Kontroll- und Steuerungsgremium mit interventionistischen Vollmachten gewann an Einfluss. Zudem wurde mit der Streichung des Begriffs der deutschen Nation und der Festschreibung des unzertrennlichen Bündnisses mit der UdSSR eine neue deutschlandpolitische Standortbeschreibung vorgenommen.

Insgesamt, so das Fazit von Professorin Dr. Will, zog der Verfassungsprozess der DDR die Konsequenz aus dem durch die Verstaatlichung des wirtschaftlichen Eigentums geschaffenen neuen Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft. Der DDR lag eine Verfassungs- und Rechtsordnung zugrunde, die nicht auf staatsbürgerlichen und menschenrechtlichen Grundstandards fußte. Dr. Will sagte: „Die DDR war kein Rechtswegestaat, allenfalls ein Eingaben-Staat. Grundrechte wurden nie als Abwehrrechte gegen den Staat verstanden und ausgestaltet.“ Ein moderner Verfassungsstaat, so betonte Dr. Will, müsse Gewaltenteilung anerkennen und für den Einzelnen einklagbare Rechte definieren. Dies hieße aber nicht, dass es in der DDR nicht auch Rechtssetzung und Rechtsprechung gegeben habe. Sie habe nicht in Gänze gegen Grundrechte verstoßen und sei in Bezug auf das Zivilrecht, zum Beispiel Scheidungsrecht oder Sachenrecht, teilweise rechtlich adäquat und sogar modern gewesen. Andere Teile, zum Beispiel der politische Teil des Strafrechts oder verfassungsrechtlich gesicherte Grundrechte, hätten international anerkannten Grundrechten eklatant widersprochen. Es fehlte beispielsweise ein Streikrecht und das Recht auf Meinungsfreiheit war eingeschränkt.

Eingaben-System der DDR

Dr. Felix Mühlberg erläuterte die Funktion der „Eingabe“ als ein selbst gefundenes, erst später institutionalisiertes Mittel der DDR-Bürger*innen, um die Lösung persönlicher oder gesellschaftlicher Probleme zu erreichen. Gleichzeitig wurde die Eingabe zu einem durchaus viel genutzten Mittel des DDR-Systems, die in der Bevölkerung für Unmut sorgenden Probleme kennenzulernen und - im Rahmen des Möglichen – zu korrigieren. Im Gegensatz zu heutigen Petitionsausschüssen, die sich an die Legislative richten, habe sich das Eingaben-System direkt an die Exekutive gewandt und in deren Handeln eingegriffen. Dr. Mühlberg sprach von „unglaublichen Mengen an Briefen“, die Historiker*innen heute Einsichten in das Leben in der DDR und die Funktionsweise des DDR-Systems vermitteln könnten. Dr. Mühlberg zufolge hänge die Qualität einer Gesellschaft auch davon ab, „wie sie in der Lage ist, das Surplus zu verteilen“. Natürlich sei die Verfassung eine Frage, die das Leben der Menschen normiere. „Ebenso aber die Frage, wie sich eine Verwaltung verhält.“ Hier habe man in der DDR aus ideologischen Gründen versucht, den Grundsatz einer bürgernahen und um das Wohl der Bürger*innen besorgten Verwaltung umzusetzen, wobei die fast überall spürbare Knappheit der Ressourcen der wichtigste Gegenspieler gewesen sei.

Max Opitz als Büroleiter des ersten und letzten DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck sei es gewesen, der Anfang der 1950er Jahre die Bedeutung der Eingaben – zunächst für Pieck – erkannt habe und eine Behörde zum Umgang mit diesen geschaffen habe. So habe sich auf der obersten staatlichen Ebene ein Rückkopplungsmechanismus entwickelt. Der Bedarf danach war groß, da das zentralistische Konzept des Staatssozialismus, alles zu steuern, notwendigerweise große Lücken zeigen musste. Tatsächlich habe Pieck und in einer Folge der spätere Staatsrat der DDR die Verwaltung so ein Stück weit kontrollieren können. Die Losung „Alles für das Wohl des Volkes“ der SED habe einem paternalistischen Konzept entsprochen, zu dem ein umfangreiches Beschwerdesystem gepasst habe. Allerdings sei der Wille, aus den Eingaben auch Schlüsse zu ziehen, zu verschiedenen Zeiten bei den Akteuren auf der obersten politischen Ebene unterschiedlich ausgeprägt gewesen. Der Vorsitzende des Staatsrats der DDR, Walter Ulbricht, etwa habe gefunden, dass Eingaben unter Umständen politische Korrekturen begründen müssten, da ihre Auswertung ein adäquateres Bild zeichnen würde als die Rückmeldungen der Funktionär*innen. Erich Honecker dagegen habe geglaubt, alles besser steuern zu können: „Die Altersweisheit von Ulbricht wurde abgeworfen, die Rolle der Eingaben nahm stark ab“, beschrieb das Dr. Mühlberg. So wurde der Umstand, dass das Thema Reisefreiheit seit Mitte der 1980er Jahre immer stärker wurde und ab 1987 schließlich Hauptthema war, einfach ignoriert.

Sonst habe der Schwerpunkt der Eingaben fast über die gesamte Zeit der DDR im Gebiet „Wohnungsfragen“ gelegen. Wie selbstbewusst die Bürger*innen mit dem Instrument umgingen, verdeutlicht die Tatsache, dass mitunter mit Wahlenthaltung oder anderem „Liebesentzug“ gegenüber dem System gedroht wurde, um Bewegung bei den Behörden zu erreichen. Sehr oft sei die Eingabe zudem an den Staatsrat, also die oberste Ebene, gerichtet gewesen und von dort mit Berichtspflicht nach Unten weitergegeben worden – eine in einem zentralistischen System sehr logische Vorgehensweise.

Der Anspruch des Systems war, dass die sozialistische Verwaltung - anders als eine Verwaltung im bürgerlichen Staat - grundsätzlich „im Sinne der Leute“ agieren. Im Zuge der immer selbstverständlichen Befassung mit den „Eingaben“ wurde mit einem Eingaben-Gesetz Förmlichkeit geschaffen. Unter anderem legte man die Frist von zwei Wochen für eine Rückantwort an den/die Beschwerdeführer*in fest und wollte mit förmlichen Bescheiden die Flut an Beschwerden eindämmen. Kontrollen auf Umsetzung von Festlegungen wurden ernst genommen, die Verwaltungen wurden teilweise paralysiert mit der Arbeit mit den Eingaben. Gerade zu Reisefragen und Wohnungsfragen trug die Förmlichkeit kaum zum Rückgang der Beschwerden bei.

Inhaltlich hätten die Eingaben bei statistischer Auswertung die Möglichkeit gegeben, selbst die Stimmung in einzelnen Bevölkerungsgruppen nachzuvollziehen. Menschen wurden bekannt, die für andere aus ihrer Umgebung regelmäßig Eingaben formulierten. Dr. Mühlberg resümierte: „Klagen von Bürgern gegen Verwaltungen sind auch heute nicht breit geübte gesellschaftliche Praxis: Eingaben waren es.“

Opposition

Als Zeitzeugin erinnerte Renate Lützkendorf daran, dass Eingaben das einzige legale Mittel waren, um auf Missstände und Probleme aufmerksam zu machen. Erst Ende der 1980er Jahre wurden – sehr vereinzelt und unter widrigsten Umständen - Demonstrationen zu einzelnen gesellschaftlichen Fragen möglich, wenn sie nicht staatlich organisiert waren. Zu den Räumen, in denen sich solche Initiativen von Unten herausbildeten, gehörten vor allem kirchliche Räume, etwa die „Offene Arbeit“ in Erfurt, wo sich viele engagierte jüngere Leute versammelten, die nicht unbedingt christlich gebunden waren und die sich in nicht staatlich kontrollierten Bereichen treffen und engagieren wollten. Eine große Rolle in diesen Bewegungen spielten Umweltthemen. Unter anderem verfasst eine Arbeitsgruppe der „Offenen Arbeit“ wegen der schlechten Luft in Erfurt 1988 einen Brief an kommunale Verantwortliche der Stadt. Zu dessen Übergabe sollte das Rathaus demonstrativ mit Mundschutz aufgesucht werden – davon erhielten staatliche Stellen im Vorfeld Wind und es gab Druck und Einflussnahme auf die Kirchenleitung, diese Aktion - aus staatlicher Sicht eine Eskalation - zu verhindern.

Kennzeichnend für die kritische Jugendkultur der Zeit waren Bluesmusik, „Schlamperkleider“ und die Begeisterung für den Umweltschutz. Dass es hier Handlungsbedarf gab, war jedem deutlich, der mit offenen Augen durch die Stadt ging. Zuerst versuchte sie, ihr Engagement in den „Kulturbund“ einzubringen, wo es eine „AG Umweltschutz und Umweltgestaltung“ gab und eine Gruppe für Öffentlichkeitsarbeit. Diese entwarf unter anderem handgemalte Plakate für Vorträge zu Grünanlagen und Bäumen. Konflikte gab es hier schon intern. So hatte die SED-Parteigruppe im Erfurter „Kulturbund“ den Begriff „Grüner Sauerstoff“ auf einem Plakat als nicht machbar eingestuft. Wegen den „Grünen“ in der BRD sollte das Wort „Grün“ nicht benutzt werden. Der „Kulturbund“ bemühte sich zwar um die Flusspflege der Gera, doch die eingesetzte Chemie der Erfurter Schuhindustrie als Verursacherin der schädlichen Einleitungen durfte nicht öffentlich verantwortlich gemacht werden. Auch gab es Konflikte um eine Ausstellung und die Frage, was darin gezeigt werden dürfe. Durch eine Mitschülerin kam Lützkendorf dann zur „Offenen Arbeit“ – hier gab es ein offeneres Klima, waren neue Themen diskutierbar und wurden bearbeitet. Etliche Menschen aus dem „Kulturbund“ traf sie dort wieder. Natürlich gab es auch Stress: die Abteilung Inneres beim Rat des Kreises hatte mehrfach Kirchenvertreter auf abweichendes Verhalten der jungen Menschen der „Offenen Arbeit“ angesprochen. Doch die Kirchenoberen hätten im entscheidenden Moment immer zur „Offenen Arbeit“ gehalten. So war es auch möglich, dass die Erfurter Zeitung „Schlagloch“ entstehen konnte.

Bei der Kommunalwahl 1989 hatte man sich dann verabredet – so wie in anderen Städten auch - die offene Stimmauszählung zu überwachen. Es gelang, - obwohl versucht wurde, das zu verhindern - in Erfurt etwa 25 Prozent der Wahllokale zu beobachten. Die Beobachter*innen aus dem Umfeld der „Offenen Arbeit“ konnten 630 Nein-Stimmen zählen. Damals war es nur möglich, der gemeinsamen Liste der SED und ihrer Bündnispartner die Stimme zu geben oder sie zu verweigern. Diese Zahl der Nein-Stimmen aus nur einem Viertel der Wahllokale entsprach dann in etwa der Zahl, die offiziell für ganz Erfurt angegeben worden war – das konnte nicht stimmen. Damit war der Wahlbetrug auch in Erfurt erwiesen. Allein dieser Beweis, dass die Ergebnisse der Kommunalwahl gefälscht waren, bestärkte die Kritik am System in der Bevölkerung noch einmal deutlich. Dennoch sei das, was sich die jungen Menschen in der „Offenen Arbeit“ als gesellschaftliches Ziel vorgestellt hätten, keine Übernahme des westlichen kapitalistischen Modells gewesen. Sie hätten vielmehr ein Aufbrechen der undemokratischen und unmodernen Zustände erreichen wollen und einen demokratisierten Sozialismus angestrebt. Frau Lützkendorf sagte außerdem in ihrem Vortrag mit Blick auf die heutige gesellschaftliche Situation: „Der Rechtsstaat reicht nicht aus, es braucht aktive Menschen, sonst können die gesellschaftlichen Probleme nicht gelöst werden, und wir schlittern weiter in eine Situation abnehmender Stabilität.“

Debatte

In der anschließenden Diskussion, in der Teilnehmer*innen aus dem Publikum das Wort ergriffen, ging es zunächst um die Eingaben und das persönliche Risiko, das ein/e DDR-Bürger*in einging, wenn er oder sie eine Beschwerde einreichte oder jemand durch häufige Eingaben als „Quertreiber“ erscheinen musste. Dr. Felix Mühlberg zufolge wurde in der DDR darauf geachtet, dass Repression durch Behörden in Reaktion auf Eingaben nicht erfolgte. Die Doktrin der Partei bestand im Anspruch, eine Verwaltung für die Bevölkerung zu organisieren. Es ging auch darum, so das Funktionieren des Systems vorzuführen. Dr. Mühlberg sei durch die Akten kein Fall bekannt, wo jemand aufgrund von „Vielschreiberei“ Probleme bekam. Man müsse sich aber auch vergegenwärtigen, wie Eingaben verfasst waren: Weil man etwas erreichen wollte, war es ungünstig, mit dem Eindruck eines notorischen „Nörglers“ oder eines verbissenen Systemgegners aufzutreten. Häufig wurde daher eingangs in den Beschwerden in prinzipiellen Punkten Übereinstimmung mit dem Staat signalisiert und man machte seine Erwartungen an den eigenen Ansprüchen des Systems fest, um danach das abweichende und störende Ärgernis darzustellen. Das Problem der DDR sei hier nicht das Problem des Anhörens von Kritik an sich gewesen, sondern die Tatsache, dass Ressourcen zur Korrektur nur begrenzt vorhanden waren.

Welchen Umfang Eingaben zu „Schlamperei“ und Missständen in Betrieben einnahmen, kann heute nur schwer festgestellt werden. Aber die Absicht, auf Effizienzmängel im System hinzuweisen, gab es. Umso mehr war es unverständlich, dass in den späteren Jahren das Interesse der SED- und DDR-Führung an der Kritik abnahm. Dass Angst im Zusammenhang mit Eingaben weniger eine Rolle spielte, wird auch durch die oft angewandte Drohung mit Wahlverweigerung oder dem Stellen eines Ausreiseantrages deutlich. Man konnte sich darauf verlassen, dass in der Regel zunächst versucht wurde, vorhandenen Ärger durch Aufmerksamkeit auf das Problem und wenn möglich Abhilfe zu dämpfen.

In der Debatte wurde auch Bezug genommen auf die Ausführungen von Frau Dr. Will zum engen Zusammenhang von wirtschaftlichem und politischem System der DDR. 90% der Industrie waren im Staatsbesitz; im Handwerk und in der Landwirtschaft überwogen die durch das System geschaffenen kollektiven Produktions- und Eigentumsformen. Diese staatswirtschaftliche Verfasstheit der Wirtschaft erzeugte das dieses System stützende und lenkende politische System. Dabei habe das Prinzip der 2- und 5-Jahrespläne auch die noch privaten Teile der Wirtschaft umfasst.

Dem politischen System habe das rechtliche System entsprochen. In anderen Ländern des Staatssozialismus seien nach 1945 ebenso Enteignungen nach ähnlichen Gesichtspunkten durchgeführt worden, zum Teil auch mit Volksbefragungen. Aus dem Publikum wurde auf ein geschichtliches Fenster hingewiesen, dass es in Deutschland nach 1945 zunächst gegeben habe, in dem eine Alternative zur Restauration in Westdeutschland und zur Angleichung an die sowjetischen Machtgrundlagen im Osten denkbar und eventuell mehrheitsfähig gewesen sei. Allerdings konnte sich eine solche Option weder in den Stäben der alliierten Planer noch in der deutschen Politik durchsetzen. Gegen das Urteil des ehemaligen DDR-Rechtsanwaltes Lothar de Mazière, der die DDR als Rechtsstaat bezeichnet hatte, bekräftigte Dr. Will die prinzipielle Kritik an der fehlenden Ausgestaltung rechtsstaatlicher Ansprüche. Im Rechtsstaat stehe die Drohung der Verfassungsklage faktisch die ganze Zeit hinter dem Gesetzgeber und zügle diesen. Für den Untergang der DDR seien allerdings vorrangig wirtschaftliche Faktoren verantwortlich gewesen.

Andere Stimmen aus dem Kreis der Teilnehmenden wehrten sich gegen das Messen der DDR an der Bundesrepublik der 1970er Jahre. Die DDR sei beim Vergleich mit anderen europäischen kapitalistischen Ländern - etwa Griechenland, Spanien und Portugal – durchaus konkurrenzfähig gewesen, was das Lebensniveau und auch die Möglichkeiten zur Entfaltung der Persönlichkeit angegangen sei. Der Kritik an den Defiziten der DDR in Hinsicht auf politische Rechte, öffentliche Möglichkeiten zur Kritik etc. entspreche heute beispielsweise nicht das Schweigen zu 30 Prozent Jugendarbeitslosigkeit in EU-Ländern. Das finale „Plattmachen“ vieler Betriebe nach 1990 durch die Politik („Treuhand“) habe eine tiefe gesellschaftliche Depression hinterlassen, die heute einen erheblichen Teil zur Rechtsentwicklung beisteuere.

Frau Lützkendorf erinnerte in der Diskussion an die Formel des „verbesserlichen Sozialismus“ (Heino Falcke), die im kirchlichen Umfeld der kritischen Teile der Gesellschaft geprägt wurde und an die „kurze Zeit, in der es möglich schien, einen vollkommen neuen gesellschaftlichen Konsens herzustellen“. Dr. Will steuerte hier auch die Erinnerung an Wolfgang Ullmanns Entwurf für eine neue DDR-Verfassung bei, der den „Runden Tisch“ bestimmt habe, an dem sie selbst damals für die SED-PDS mitgearbeitet hatte. Die Chancen dieser Zeit hätten sich nicht entfalten können, da Entscheidungen extern getroffen wurden und mit der Aufgabe der Eigenständigkeit der DDR mögliche alternative Szenarien gegenstandslos wurden.

Die weiteren Termine der Veranstaltungsreihe:

- 20. September: Wirtschaft, Beruf & Alltag, Haus Dacheröden, Erfurt

- 08. November: Bilanz, Konferenzraum BE01, Stadtwerke, Erfurt

siehe auch die Pressemitteilung in der UNZ-12-2019

Rückblick auf die Veranstaltung „Dissidenz & Opposition in der DDR“: th.rosalux.de/dokumentation/id/40324/veranstaltungsreihe-3089-ddr-geschichte-und-gegenwart/