Publikation Wirtschaftswissenschaft: Einseitige Lehre

Über politische Vorschläge, wie der neoliberalen Hegemonie in der Wirtschaftswissenschaft Alternativen entgegen gesetzt werden können.

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Von Dr. Arif Rüzgar und Paul Wellsow

DIE LINKE Thüringen forderte auf ihrem Landesparteitag in Gera am 30./31. März 2019 eine Professur für Plurale Ökonomie und ein wirtschaftspolitisches Forschungs- und Beratungsinstitut zur sozial-ökologischen Transformationsforschung. Mit diesen Forderungen, die einstimmig in das Wahlprogramm zur Landtagswahl 2019 im Freistaat eingefügt wurden, sollen dem neoliberalen Mainstream sowohl in den Wirtschaftswissenschaften als auch bei den wirtschaftspolitischen Forschungsinstituten heterodoxe, kritische und linke Ansätze entgegengesetzt werden. Die Landesarbeitsgemeinschaften »Wirtschaftspolitik«, »Wissenschaft und Hochschule« sowie »Linke Unternehmer*innen, Freiberufler und Selbstständige« legten den Antrag vor, der im Anschluss eine öffentliche Kontroverse auslöste. Auf den Wirtschaftsseiten der konservativen »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« wurde die Forderung sichtlich empört kommentiert. In dem Antrag heißt es: »DIE LINKE steht für eine sozial-ökologische Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft. Dafür braucht es auch entsprechende Forschung und Beratung. Wir wollen daher an einer Thüringer Hochschule eine Professur für Plurale Wirtschaftswissenschaft (Heterodoxe Ökonomie) und ein entsprechendes wirtschaftswissenschaftliches Forschungs- und Beratungsinstitut schaffen, um der neoklassischen Lehre und dem neoliberalen Mainstream in den Wirtschaftswissenschaften Denken, Forschung und Lehre vielfältigeren Zuschnitts zur Seite zu stellen. Dazu gehören ausdrücklich auch (post)keynesianische, marxistische, ökologische oder auch feministische Wirtschaftstheorien.« Und zur Begründung heißt es: »Das neoklassische Paradigma dominiert die wirtschaftswissenschaftliche Forschung und Lehre. Ihr Pendant in der Wirtschaftspolitik ist der Neoliberalismus. Die übergroße Mehrheit der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten richtet ihre Lehre und Forschung nach dieser Theorie aus, die folglich auch auf die an diese Theorie angelehnte Wirtschaftspolitik wirkt. Auch die meisten wirtschaftspolitischen Forschungs- und Beratungsinstitute, deren Analysen, Einschätzungen und Empfehlungen von Regierungen eingeholt werden, sehen die Deregulierung von Märkten, die Privatisierung von staatlichen Einrichtungen und die weitere Ausdehnung des Finanzmarktes als Errungenschaft an und propagieren diese vehement. Wir wollen mit unseren Vorschlägen die Grundlage für mehr Vielfalt in der wirtschaftswissenschaftlichen Bildung und Forschung sowie der wirtschaftspolitischen Beratung schaffen.«

Hegemonie der Neoliberalen an den Unis

Die volkswirtschaftliche Hochschulbildung ist von einer starken Einseitigkeit der Lehrinhalte geprägt. Lehrbücher greifen kaum konkurrierende Paradigmen oder unterschiedliche Perspektiven auf. Stattdessen wird suggeriert, dass es eine einheitliche und selbstverständliche Denkweise gäbe und sich nur eine relevante ökonomische Methode herauskristallisiert hätte. Die Einseitigkeit führte dazu, dass Studierende weltweit diese Denkmuster und die konkrete Umsetzung in den Hochschulen kritisiert haben. Im Juni 2000 formulierte eine Gruppe von Studierenden an der Sorbonne in Paris die Petition »Autisme-Économie«. Sie kritisierten die Anwendung abstrakt-formaler mathematischer Modelle als Selbstzweck und riefen die Professor*innen auf, die Ökonomische Lehre aus ihrem »autistischen« und sozial unverantwortlichen Zustand zu befreien. Die Forderungen wurden auch in Deutschland aufgegriffen. Im November 2003 gründeten Studierende mit Unterstützung einiger Lehrender an der Universität Heidelberg den Arbeitskreis »Postautistische Ökonomie« und organisierten Vorträge und Seminare. 2007 wurde der gleichnamige Verein gegründet, der sich letztlich 2012 in »Netzwerk Plurale Ökonomik e.V.« umbenannte. Zusätzlich zur Kritik in Frankreich forderten sie in Deutschland die Wiedereinführung der Fächer »Geschichte des ökonomischen Denkens« und »Wirtschaftsgeschichte« sowie eine interdisziplinäre Öffnung. Kritisiert wurde auch, dass Studierende der Volkswirtschaftslehre das Studium absolvieren, ohne einen Satz von Adam Smith, Karl Marx oder auch John Maynard Keynes im Original gelesen zu haben.

Die Bewegung der Pluralen Ökonomie ist mehr als die Forderung nach Theorienvielfalt und Interdisziplinarität. Sie ist zugleich Ausdruck der Kritik an der herrschenden Lehre und ihrer realwirtschaftlichen Resonanz sowie der wirtschaftlichen Gestaltung der Lebensverhältnisse. Sie kritisiert Marktgläubigkeit als Doktrin und die Vernachlässigung von Faktoren wie Verteilung von Einkommen und Kapital, sowie sozialen und ökologischen Schieflagen.

Neoliberale Wirtschaftspolitik ist ein Konsens verschiedener liberaler Schulen, die zu entsprechenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen führen – Neoklassik, Ordoliberalismus oder die Österreichische Schule. Eine aktuelle Studie des Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle zeigt die Marktgläubigkeit dieses Denkens: »Die Gewährung von regionalpolitischen Subventionen für betriebliche Investitionen führt, weil an das Kriterium der Schaffung neuer und die Sicherung bestehender Arbeitsplätze gebunden, nicht zwangsläufig zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität«. Dass Arbeitsplatzschaffung und -sicherung angesichts hoher Arbeitslosigkeit, der Zerschlagung wirtschaftlicher Strukturen und Infra­struktur und anhaltender sozialer Deklassierung seit den frühen '90er Jahren in den neuen Bundesländern auch 30 Jahre nach der Vereinigung eines der wichtigsten Themen ist, scheint für das Institut nicht relevant zu sein.

Chancen für einen Hegemoniebruch

Die politischen und ökonomischen Folgen der Einseitigkeit in der Ausbildung, Forschung und Politikberatung sind weitreichend. Gesellschaftliche, politische und ökonomische Institutionen, aber auch Medien und Wissenschaft benötigen an Hochschulen ausgebildeten Nachwuchs. Gibt es keine heterodoxe Lehre und Forschung, so wird es keine alternativen Denkmuster und keine wirtschaftspolitische Expertise für eine sozial-ökologische Transformation geben. Die theoretische Grundlage der meisten einflussreichen Forschungsinstitute ist der Neoliberalismus. Hier muss Kritik und Entwicklung alternativer Ideen ansetzen, um Alternativen zu ermöglichen. Am 27. Oktober 2019 wird in Thüringen der Landtag neu gewählt. Dann wird es darum gehen, ob die rot-rot-grüne Landesregierung unter Bodo Ramelow (DIE LINKE) in eine zweite Amtsperiode gehen kann – oder ob es der zurzeit schwachen CDU gelingt, eine andere Mehrheit zu organisieren. Die Forderung nach einer Professur für Plurale Ökonomie und wissenschaftliche Initiativen gegen den neoliberalen Mainstream in der Wirtschaftswissenschaft, die über individuelle Initiativen hinausgehen, dürften nur Chancen haben, wenn Rot-Rot-Grün weitermachen kann. Die Stärkung pluraler, kritischer, ökologischer und linker Wirtschaftswissenschaften ist entscheidend für eine langfristige sozial-ökologische Transformation.

Dr. Arif Rüzgar ist Wirtschaftswissenschaftler und stellvertretender Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen. Paul Wellsow ist Politikwissenschaftler und Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen.