Dokumentation 100 Jahre Gründung der USPD. Kolloquium in Gotha

Uwe Sonnenberg in "Zeitschrift für historische Studien" 2017/III

Information

Veranstaltungsort

Tivoli Gotha
Am Tivoli 3
99867 Gotha

Zeit

06.04.2017

Themenbereiche

Parteien- / Bewegungsgeschichte, Deutsche / Europäische Geschichte

Am 6. April 1917 gründete sich die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD). Nach Ansicht von Heinrich August Winkler entstand damit eine bis heute schwerwiegende „Erblast der Linken“ (FAZ vom 3. April 2017). Mit Peter Brandt kann genauso gut davon ausgegangen werden, dass in diesem Moment die „Geburtsstunde der deutschen Linken jenseits der SPD“ (ZEIT-Geschichte, 16. Mai 2017) eingeläutet wurde. Von der Geschichtsschreibung Ost wie West wurde die USPD oftmals verzerrt dargestellt und zumeist eher stiefmütterlich behandelt. Zuletzt gab es wieder ein verstärktes Interesse daran, ihren historischen Ort zu bestimmen, ohne die Debatten des Kalten Krieges nachzustellen. Der Weimarer Republik e.V. zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung nahmen sich nun vor, Ursachen und Folgen der USPD-Gründung zu ergründen, in der sich die „Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung“ erstmals manifestiert habe. Ihr gemeinsam organisiertes Kolloquium fand auf den Tag genau 100 Jahre nach der Gründung statt – symbolpolitisch hoch aufgeladen im „Tivoli“ in Gotha, wo sich 1875 „Lassalleaner“ und „Eisenacher“ zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ zusammengeschlossen hatten. Dieser Ort der „Einheit“ befindet sich nur paar Hundert Meter Luftlinie entfernt von mittlerweile abgerissenen Volkshaus „Zum Mohren“, in dem 42 Jahre später die USPD gegründet wurde.

Die erste Sektion der Tagung über die „Entstehung der USPD im Spannungsfeld von Krieg und Frieden“ eröffnete Wolfgang Kruse (Hagen). Er hielt ein überzeugendes Plädoyer dafür, das Verhalten der SPD ab 1914 als ambivalente Politik zwischen Opposition gegen die Burgfriedenspolitik und der Integration in den politischen Betrieb des Kaiserreichs zu begreifen. Dadurch habe sich die Partei allerdings sukzessive in einen „Teufelskreis der Einflusslosigkeit“ begeben. Max Bloch (Köln) sah sie schon vor der Novemberrevolution zu informellen Regierungspartei geworden, zu einer Verteidigerin der Ordnung und damit auch ihrer mörderischen Wirklichkeit. Die Spaltung der SPD sei unausweichlich, im Sommer 1917 aber auch eine notwendige Voraussetzung gewesen für ihre Mitarbeit im Interfraktionellen Ausschuss des deutschen Reichstages. Stefan Bollinger (Berlin) wies darauf hin, dass die tatsächliche Spaltung der Partei schon am 4. August 1914 mit der Zustimmung der SPD-Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten stattgefunden habe. Die Reflexion über Perspektiven und Positionen „dritter Wege“, denen auch die USPD zwischen staatstragender und revolutionärer Politik folgte, sei ihm zufolge zwar wichtig gewesen. In konkreten Situationen aber, insbesondere in Situationen des Übergangs, so seine Beobachtung, würden nicht Ideologen und Theoretiker handeln, sondern Pragmatiker Politik machen.

Die fundamentale Ablehnung des Krieges und zunehmend auch des kriegsführenden Staates mit seiner politisch-sozialen Ordnung waren historische die stärksten Beweggründe für die Herausbildung der USPD. Thilo Scholle (Berlin) ging in diesem Zusammenhang ausführlich auf das von Hugo Haase, Eduard Bernstein und Karl Kautsky 1915 veröffentlichte Manifest über das „Gebot der Stunde“ ein. Fast lese es sich heute wie ein vorweggenommener Gründungsaufruf für die USPD. Gegen die weitere Integration der Partei wie auch der Arbeiterbewegung in den Staat befürwortete es vorläufig eine Verweigerungshaltung. Die friedenspolitischen Strategien der Spartakusgruppe hingegen – von Marcel Bois (Hamburg) anhand der „Spartakusbriefe“ vorgestellt – sahen in der Tradition der II. Internationale weiterhin Massenaktionen des Proletariats gegen den imperialistischen Krieg vor. Ohnehin würde der Weltfrieden, der Analyse jener recht kleinen, nichtsdestotrotz einflussreichen Spartakusgruppe nach, nicht durch internationale Schiedsgerichte gesichert werden können. Es werde auch keinen wahren Frieden geben, solange Klassenherrschaft existiere. Walter Mühlhausen (Heidelberg) ging zum Abschluss der Sektion verschiedenen Phänomenen schleichender Erosion der Burgfriedenspolitik in dem 1917/18 schon kriegsmüde gewordenen Deutschland nach. Die Linksradikalen der Spartakusgruppe in der USPD wie rechts stehende Funktionäre der Mehrheitssozialdemokratie seien sich dann erstaunlich einig in ihrer Einschätzung gewesen: Sollte es keinen parlamentarischen Verständigungsfrieden geben, werde den Deutschen wie in Russland eine Revolution ins Haus stehen.

Die zweite Sektion untersuchte die politischen Vorstellungen der USPD jenseits des Parlamentarismus der repräsentativen Demokratie. So nahm sich Mike Schmeitzner (Dresden) des Wandels im begrifflichen Verständnis der „Diktatur des Proletariats“ als einer Herrschafts- und Regierungsform bei Karl Kautsky an. Diktatur und Demokratie seien keinesfalls ein Gegensatzpaar gewesen, sondern standen eher in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Ganz ähnlich den Vorstellungen des späteren Friedrich Engels würde es sich bei der „Diktatur des Proletariats“ in einer demokratischen Republik um die absolute Mehrheit der Sozialdemokratie auf parlamentarischer Grundlage gehandelt haben, die eine Klassenherrschaft repräsentiere und auch diktatorische Züge hätte annehmen können, um den jeweils erreichten Stand des gesellschaftlichen Fortschrittes abzusichern. Keinesfalls dürfte der Begriff „Diktatur des Proletariats“ bei Kautsky mit einer Minderheits- oder gar Parteidiktatur verwechselt werden, wie sie sich zeitgenössisch bereits in Gestalt der Bolschewiki herauszubilden begann.

Bernd Braun (Heidelberg) nahm Kautskys Bonmot, die SPD sei eine „revolutionäre, nicht aber eine Revolution machende Partei“, zum Anlass, festzustellen, dass sie vor dem Hintergrund der Novemberrevolution auch keine die Revolution antizipierende oder für den „Tag X“ Konzepte entwickelnde Partei gewesen sei. Zumindest bis zum 8. November hätten sich die meisten Sozialdemokraten im Kaiserreich gut als „Vernunftmonarchisten“ arrangieren können. Mit der Einführung der Republik jedenfalls taten sie sich schwer, übernahmen dann aber doch schnell die Handlungsführerschaft in Deutschland. Die „Zweite Phase der Revolution“ ab Anfang 1919 jedoch repräsentierte die USPD – so Axel Weipert (Berlin) in seinem Beitrag -, nachdem das Rätesystem zum Ziel, die Rätestrukturen zum Mittel und die Rätebewegung zum Motor für die Linken in der USPD geworden waren. Die politische Demokratie benötigte zur Neugestaltung der Klassenherrschaft eine Ergänzung durch wirtschaftliche Demokratie. Nicht nur in den Augen des Ende 1919 zu einem der Vorsitzenden der USPD gewählten Ernst Däuming fungierten die Räte idealerweise als höchste Stufe einer „Diktatur des Proletariats“.

In Gotha errang die USPD im Februar 1919 die absolute Mehrheit. Wie ergiebig der Blick in die „Provinz“ sein kann, zeigte Stefan Gerber (Jena). Anhand mehrerer Beispiele führte er aus, wie das „rote Gotha“ als Gegenstand geschichtspolitischer und revolutionshistorischer Auseinandersetzungen bis heute verhandelt wird. Als letzter Referent bereitete Reiner Tosstorff (Mainz) die Abschlussdiskussion vor, indem er den weiten Weg der USPD von ihrer Spaltung 1920, bei der es vor allem die radikalisierte Basis Richtung KPD ging, über die Rückkehr des rechten Parteiflügels zur Mehrheitssozialdemokratie bis hin zu ihrem Aufgehen in der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) 1931 nachzeichnete.

War das Verschwinden der USPD vor dem Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte zwangsläufig? Diese Frage stand zum Abschluss der Tagung zentral im Raum. Bedauerlicherweise wurde bei der Betrachtung des Wechselspiels von Einheit und Spaltung nicht noch einmal Stefan Müllers (Bonn) eingangs formulierte Gedanke aufgegriffen, der die USPD auch als eine frühe Vorläuferin für Versuche der Einheit der Arbeiterklasse sah, mit der Der Aufstieg der Nationalsozialisten Ende der 1920er-Jahre wenn nicht gar verhindert, so zumindest erschwert hätte werden können. In dieser Perspektive würde die Geschichte der USPD gerade keine im Winklerschen Sinne schwerwiegende Last, sondern ein gemeinsames Erbe für all jene sein, die sich auch heute noch politisch auf die Geschichte der Arbeiterbewegung beziehen. Ganz nebenbei bemerkt, ist es als erfreulich hervorzuheben, dass Diskussionen  untereinander auf dem von etwa 50 Teilnehmern gut besuchten Kolloquium oftmals weit größeren Raum einnahmen als die Beiträge selbst. Ein öffentlicher Abendvortrag, in dem Hartfrid Krause (Darmstadt) noch einmal lange Linien von der Gründung der USPD bis hin zu heute noch immer anhaltenden Fraktionszwängen im Deutschen Bundestag zog, rundete die Veranstaltung ab.

Einladung und Programm "100 Jahre Gründung der USPD in Gotha"