Dokumentation Veranstaltungsreihe „30/89: DDR – Geschichte und Gegenwart“

Information

Zeit

05.04.2019

«Dissidenz und Opposition in der DDR»

Von Dr. Steffen Kachel  (Historiker, Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen und Vorsitzender der Partei DIE LINKE Erfurt. )

„Opposition und Dissidenz in der DDR“, das war das Thema der ersten öffentlichen Diskussion in der Veranstaltungsreihe „30/89: DDR – Geschichte und Gegenwart“ zur Bilanz der DDR-Geschichte, die gemeinsam von der Thüringer Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Professur für Strukturanalyse moderner Gesellschaften der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Erfurter Universität organsiert wurde.

Als Zeitzeug*innen ergriffen Wolfgang Musigmann, Mitarbeiter der „Offenen Arbeit der Evangelischen Kirche“ in Erfurt, und Steffi Hornbostel, viele Jahre Buchhändlerin in Erfurt und vor 1989 Mitglied der SED und in den Wendejahren in der „Vereinigten Linken“ aktiv, das Wort. Aus wissenschaftlicher Perspektive sprachen Professor Frank Ettrich, Soziologe und Politikwissenschaftler aus Erfurt, und Dr. Karsten Krampitz, Historiker mit dem Spezialgebiet Kirche in der DDR, aus Berlin.

Wolfgang Musigmann von der „Offenen Arbeit der evangelischen Kirche“ sprach von der DDR als einer „kleinbürgerlichen Gesellschaft“, in der es „strukturelle Beschränkungen an allen Ecken“ gegeben habe. Viele junge Menschen - dies gelte auch außerhalb des kirchlichen Umfelds - hätten diese in den 1980er Jahren als zunehmend einengend erlebt. In dieser Situation stellte die Kirche Räume zur Verfügung, die die Möglichkeit gaben, sich unkontrolliert zu treffen und mit aus staatlicher Sicht brisanten Problemen, wie zum Beispiel der Umweltzerstörung, zu befassen. Für diese Themen habe es sonst im schulischen und gesellschaftlichen Kontext nur wenig Raum gegeben. Auch in der Friedensfrage sei nur im kirchlichen Umfeld eine unkontrollierte und offene Diskussion möglich gewesen. Auf die sich entwickelnden Debatten habe der Staat selten gelassen und häufig repressiv und drohend reagiert. An vielen Stellen sei sichtbar geworden, dass der Anspruch des Systems und die Realität weit auseinander fielen. Trotz des Willens, sich nicht ein- und unterzuordnen, habe bis etwa 1986 bei kritischen jüngeren Menschen die Perspektive dominiert, die DDR-Gesellschaft und den vorgefundenen Sozialismus zu reformieren. Die SED-Führung habe aber den Anspruch auf Mitgestaltung brüsk abgelehnt und nicht verstanden.

Karsten Krampitz begann seinen Vortrag mit einem Lob für die Lebensleistung des anwesenden ehemaligen Probstes von Erfurt, Heino Falke. Falke habe mit seiner Linie den Status des „autonomen Mitarbeitens“ der Kirche im Staatssozialismus begründet anstelle der „Fundamentalopposition“ auf der einen und des „profillosen Mitschwimmens“ auf der anderen Seite. Die Kirche habe für den – vom Westen finanziell gestützten – einzigen Raum gesorgt, in dem Tagesordnungen und Aufgabenstellungen nicht von der SED bestimmt gewesen seien. Abgesehen vom Anfang der 1950er Jahre könne man zwar von einem Kampf der SED gegen den Glauben, aber nicht gegen die Kirche und die Gläubigen sprechen. Benachteiligungen habe es an vielen Stellen gegeben, aber keine Verfolgung, wie heute mitunter geschichtslos behauptet werde. Das Vorgehen der Nazis gegen jüdische Menschen, die der evangelischen Konfession angehörten, entbehre hier jeder Parallele. Auch müsse man mit dem Oppositionsbegriff, auf die gesamte Kirche bezogen, vorsichtig sein, denn große Teile der Amtskirche hätten sich über die Jahrzehnte entweder politisch enthalten oder auch bewusst arrangiert.

Zusammenfassend stellte Krampitz fest, die DDR-Geschichte würde heute an vielen Stellen falsch erzählt. Dazu habe die britische Forscherin Mary Fulbrook unlängst geäußert, dass wohl niemand auf die Idee käme, eine Geschichte des Westens allein auf der Basis der Repressionsgeschichte zu verfassen; für die Geschichte der DDR werde aber dieser Weg gewählt. Der These einer kleinbürgerlichen Gesellschaft könne er zuzustimmen. Günter Gauss habe hierfür den etwas abweichenden Begriff einer Republik der „kleinen Leute“ geprägt.

Steffi Hornbostel beschrieb ihre familiäre Herkunft aus einem Arbeitermilieu als prägend für eine pro-sozialistische Lebenseinstellung, obwohl auch in der Familie Benachteiligungen und Enge zu spüren waren. Letztlich sei es für das konkrete Erleben der DDR-Realität immer wieder auf die handelnden Menschen angekommen, die die negativen oder positiven Züge des Systems in ihrem Umfeld entweder verstärkt oder abgeschwächt hätten. Es habe auch Identifikationen geschaffen, wenn man die richtigen Leute getroffen habe. Im Grunde könne und müsse man die Einstellung der sozialistischen Anhänger*innenschaft eng mit dem Umfeld der Kirche vergleichen. Beides habe ganz wesentlich auf dem Glauben beruht, in diesem Fall an die Möglichkeit einer egalitären Gesellschaftsordnung und die prinzipielle Lösbarkeit der auch von vielen SED-Mitgliedern gesehenen Widersprüche. Im Glauben seien sich das SED-nahe Milieu und christliches Milieu ähnlich gewesen. Die Referentin hob das Erleben der Wendezeit als einer Zeit ostdeutscher Selbstermächtigung, neuer menschlicher Gemeinsamkeiten und neuer Wege der politischen Debatte hervor. Es sei mit Hinblick auf die heutigen Probleme sehr zu bedauern, dass dieses Erbe nach 1990 vollkommen verschüttet worden sei.

Professor Frank Ettrich (Staatswissenschaftliche Fakultät, Universität Erfurt) leitete seinen Beitrag mit der Bemerkung ein, das Kernproblem der DDR-Entwicklung sei ihr im Grunde durch die russische Revolution vorgegebenes, festgezurrtes politisches System ohne Opposition gewesen. Opposition sei nicht notwendig zerstörerisch, im Gegenteil: Sie entwickle in der Regel Alternativen aus dem System heraus und lege Triebkräfte frei. Insofern gehe es weitgehend an den Phänomenen vorbei, wenn heute von der Opposition in der DDR geredet werde. Die DDR sei durch eine verstaatlichte Gesellschaft gekennzeichnet gewesen, die sich seit ihrer Gründung in einem immer weiter fortschreitenden Homogenisierungsprozess befunden habe. Dabei hätten kleinbürgerliche Wert- und Moralvorstellungen einen wichtigen Platz gehabt, dennoch habe aus seiner Sicht der Begriff einer „arbeiterlichen Gesellschaft“ (Alt Lüdke) eine größere Erklärungskraft. Dafür sprächen Blicke auf die Mentalität der herrschenden Funktionärsschicht wie der Masse der Bevölkerung. Die Gegnerschaft zum Modell sei seit Mitte der 1980er Jahre stark ansteigend gewesen, die massenhafte Bereitschaft zum Ausstieg aus dem System habe das System schließlich zum Einsturz gebracht. Zwischen der notwendigen Differenziertheit moderner Industriegesellschaften, zu denen die DDR gehört habe, und der angezielten gesellschaftlichen Homogenisierung habe sich ein immer stärkerer Konflikt entwickelt, der nicht aufzulösen gewesen sei. Erst recht nicht durch repressive Mittel. Eine der positivsten Eigenschaften der DDR, wenn nicht die positivste habe im gewaltfreien Abtritt bestanden, resümierte Professor Frank Ettrich.

In der anschließenden Diskussion begegneten sich Fragen und Statements aus dem Publikum mit Antworten und Ergänzungen durch die Referent*innen. Zunächst wurde zum Oppositionsbegriff diskutiert: Inwiefern ist das Vorhandensein einer Opposition für eine pluralistische Gesellschaft konstitutiv oder nicht? Die Sondersituation zweiter deutscher Staaten habe auf beiden Seiten die Grenze zwischen „systeminterner“ Opposition und systemnegierender Opposition verwischt. Kritik wurde in West und Ost sehr gern nicht inhaltlich, sondern durch den Vorwurf der Parteinahme für die andere Seite beantwortet: „Dann geh doch nach drüben!“ Hingewiesen wurde auch auf die Notwendigkeit einer historischen Betrachtung: Die Methoden, sich mit oppositionellen Bestrebungen auseinander zu setzen, waren in der DDR der 1950er Jahre andere als in den 1980er Jahren, wenn auch die prinzipielle Unfähigkeit, kritische Anstöße in das System zu integrieren, blieb. Es kann angenommen werden, dass in den 1960er und ´70er Jahren, als das Lebensniveau stieg und das System auch aus Sicht der Bürger*innen noch Entwicklungspotentiale frei machen konnte, ein gewisser sozialstruktureller Kitt entstand. Demgegenüber stieg der oppositionelle Druck, als ab Mitte der 1980er Jahre die politischen und wirtschaftlichen Krisenerscheinungen zunahmen. Im Zusammenhang mit dem Begriff der Kleinbürgerlichkeit, gegen den aus dem Publikum Vorbehalte geäußert wurden, wurden in der Diskussion vorrangig kulturelle und generationelle Bezüge deutlich. Wolfgang Musigmann sagte dazu zum Beispiel: „Gegen Honecker zu agieren war, als wenn man gegen seine Großeltern vorgeht.“

Erörtert wurden zudem verschiedene politische Faktoren, die auf den Gang der Ereignisse 1989 Einfluss hatten. Die gegenüber den heute sehr individuellen Lebensbezügen damals viel höhere Gemeinschaftlichkeit zwischen Menschen in arbeitsweltlichen Zusammenhängen, in Schule und Universität habe für die Verständigung über Alternativen als Katalysator gewirkt. Spannend sei zudem, sich die Veränderung von Forderungen und politischen Methoden im Laufe der Umwälzung näher anzusehen. Die politischen Forderungen auf selbstgemalten Plakaten im Oktober wichen im November vorgedruckten Plakaten mit „Wir wollen die D-Mark“, die vor der Demonstration in Leipzig in den Seitenstraßen verteilt wurden, wie beobachtet wurde. Ohne die internationale Entwicklung sei aber die Umwälzung nicht denkbar gewesen. Mit Michail Gorbatschow sei 1986 die Chance für Reformkräfte entstanden, Rückhalt zu bekommen. Das Verharren der DDR-Führung sei auch daher in großen Teilen der DDR-Gesellschaft bis weit in die SED hinein als anachronistisch wahrgenommen worden. Der Wendeherbst brachte mit den „Runden Tischen“ eine vollkommen neue politische Kultur hervor. 1989 ist ein Symbol auch für kommende Änderungen, die notwendig sind. Professor Ettrich von der Universität Erfurt verwies darauf, dass keine der oppositionellen Gruppen ein wirtschaftliches Konzept hatte. Auch die negative Elitenförderung sei in den 1980er Jahren an ihr Ende gekommen. Verglichen wurde das Jahr 1968 in seiner Wirkung auf beiden deutsche Staaten: Während im Westen das politische Klima der BRD mittelfristig deutlich verändert wurde, gelang das im Osten nicht, trotz Versuchen, an das westliche Beispiel anzuknüpfen.

Abschließend wurde der Stand der Debatte debattiert. Karsten Krampitz stellte fest, dass sich in der Geschichtswissenschaft zur Frage der DDR-Geschichte bereits eine sachlichere Auseinandersetzung Raum verschafft habe. Dagegen bewege sich die Darstellung der DDR-Geschichte in den Medien und im Film - mit wenigen Ausnahmen - weiterhin in einem Rahmen, in dem bestimmt sei, was sagbar ist, und was sein könne und was nicht, und in der der Kalte Krieg quasi fortlebe. In der Literatur, so stellten Frank Ettrich und Steffi Hornbostel fest, seien jüngst vermehrt Werke erschienen, die sich trauten, in Auseinandersetzung mit der zu einseitigen offiziellen Aufarbeitung der Geschichte zu gehen und die um mehr geschichtliches Verständnis ringen. Als Beispiele wurden der Band Kulturgeschichte der DDR und das jüngste Buch von Christoph Hein genannt.

Die weiteren Termine der Veranstaltungsreihe:

- 14. Juni: Staat & Gesellschaft, Haus Dacheröden, Erfurt

- 20. September: Wirtschaft, Beruf & Alltag, Haus Dacheröden, Erfurt

- 08. November: Bilanz, Konferenzraum BE01, Stadtwerke, Erfurt

siehe auch die Pressemitteilung in der UNZ-7-2019