Dokumentation Veranstaltungsreihe „30 '89: DDR-Geschichte und Gegenwart

Blühende Landschaften ...

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08.11.2019

Bericht zur vierten Veranstaltung der Reihe „30/´89“ von Universität Erfurt und Rosa-Luxemburg-Stiftung

Mit Prof. Dr. Christa Luft, ehem. Wirtschaftsministerin der DDR, Prof. Dr. Frank Ettrich, Universität Erfurt und Bernd Löffler, RLS Thüringen

Moderation: Katalin Hahn, Universität Erfurt

Unter der Überschrift „Blühende Landschaften“ setzen die RLS Thüringen und die staatswissenschaftliche Fakultät der Uni Erfurt auf ihrer vierten Veranstaltung am 08.November 2019 zum Versuch einer Gesamtbilanz der DDR und der deutschen Einheit an. Ein Vorhaben, das bruchstückhaft bleiben musste.

Wie Moderatorin Katalin Hahn eingangs formulierte, sind aktuell viele Beiträge wahrzunehmen, die sich auf Jahrestage im Zusammenhang mit der politischen Wende 1989 beziehen, wie den des Mauerfalls. Hahn erinnerte besonders an die Erwartungen, die die Ostdeutschen 1989/90 in den Wochen des Zusammenbruchs und der Entstehung neuer politischer und gesellschaftlicher Formen bewegten. Sie stellte für die kommende Diskussion zwei Fragen in den Mittelpunkt: erstens, welche Ergebnisse die Aufarbeitung der DDR-Geschichte bereits erreicht habe, und zweitens, wie es gelingen könne, die Hoffnungen der Wendezeit heute ggf. doch noch einzulösen.

Bernd Löffler versuchte die Prozesse aus Sicht der früheren linken Opposition in der DDR zu beschreiben. Friedens- und Umweltgruppen seien heute bestrebt, die emanzipatorischen Wurzeln des Aufbruchs in der DDR zu beleuchten und nicht untergehen zu lassen. So auch die diesjährige Veranstaltungsreihe der Offenen Arbeit des evangelischen Kirchenkreises Erfurt. Die Initiative für eine Vereinigte Linke habe in diesem Zusammenhang 1989 besondere Bedeutung gehabt.

Das Prinzip der Offenen Arbeit sei Ende der 1970er Jahre entstanden (Walter Schilling, Braunsdorf): „Öffnen der kirchlichen Räume für junge Menschen, die in dieser DDR nicht zurechtkommen. Dabei keine Missionierung, sondern ein Ort, der Raum bot für eigene Interessen und nicht staatlich kontrolliert war.“ Auch in Sachsen und in Berlin sei die Offene Arbeit außerhalb konfessioneller Grenzen in eher kritischen Kreisen der jüngeren Generation als attraktives Angebot wahrgenommen worden. Telegraf, Der Grenzfall, das Schlagloch seinen dabei als (innerkirchliche) Organe dieser Bewegung wichtig gewesen.

Eine Zuspitzung der Konflikte mit staatlichen Stellen und der Staatssicherheit sei im Kontext der offiziellen Liebknecht-Luxemburg-Demonstration 1988 erfolgt. Hier sei es zur Zuführung von Aktivisten gekommen, auch zu Abschiebungen nach dem Westen, nach einem halben Jahr sei den meisten Betroffenen eine Rückkehrmöglichkeit eingeräumt worden.

Dann kam die gefälschte Kommunalwahl im Mai 1989. In Erfurt konnte über eine vernetzte Aktion des Umfeldes der Offenen Arbeit in 16 Wahllokalen (25 Prozent) das Ergebnis nachvollzogen werden – hier gab es bereits mehr Nein-Stimmen als im offiziellen Ergebnis für Erfurt insgesamt ausgewiesen wurden. Damit war die Fälschung offensichtlich. Als die Grenzöffnung über Ungarn erfolgte, brach die Krise offen aus.

Die Mehrheit der linken Gruppen stellte sich auf die Position: „Wir bleiben hier, eine veränderte DDR statt Gang in den Westen.“ Jetzt sei eine revolutionäre Situation entstanden: das was, offizieller Anspruch war, sollte nun Realität werden. Probst Falckes Begriff des „verbesserlichen Sozialismus“ erhielt Tagesaktualität. Bis zum Umschlagen der Parole „Wir sind das Volk“ in „Wir sind ein Volk“ auf den in Abständen durchgeführten regelmäßigen Demonstrationen schien ein Fenster für alternative Entwicklungen offen zu sein. 

Löffler spitzte zu: Die Macht habe eine Zeit lang auf der Straße gelegen. Die linken Gruppen innerhalb der Umwälzung hätten diese jedoch nicht ergriffen. Hierfür sah er folgende Gründe:

1. Abstand zur Macht, 2. Keine Vorbereitung auf die Situation.

Dennoch seien klare Forderungen erhoben worden, von denen heute einige vorhandene programmatische Dokumente des Neuen Forums und der Vereinigte Linke Aussage geben:

- Demokratisierung

- Betriebe in Selbstverwaltung der Beschäftigten bringen

- offene Grenzen

- Antifaschismus

- Abschaffung aller Geheimdienste und Militärpakte

- demokratischer Sozialismus

Die Vereinigte Linke hatte die „Böhlener Plattform“ verabschiedet. Die 38 Forderungen enthielten Forderungen nach „Verwirklichung der sozialistischen Demokratie“ sowie „Erneuerung der wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen der Gesellschaft“.

Der „Aufbruch 89“ des Neuen Forums sprach vom Ziel globaler Gerechtigkeit sowie vom Rechtsstaat.

Wesentliche Forderungen der Demokratiebewegung der DDR von 1989 seien bis heute nicht abgegolten, so die Forderung „Die Mauer muss weg!“ (Weltweit gibt es heute 70 große Mauern), die Forderungen nach einer ökologischen Gesellschaft, nach offenen Grenzen sowie nach einem sozialen Rechtsstaat für alle. 

Dieter Langewiesche habe Revolution als Vorgang definiert, „der neue Verhältnisse schaffen will, die das Alte hinter sich lassen“: „In dem Sinne war 1989 revolutionär und radikal, aber nicht von den Ergebnissen her.“ VL-Mitbegründer Thomas Klein habe recht, wenn er für Ende 1989 „den massenhaften Verzicht auf eine eigenständig formulierte Alternative“ feststelle und beklage.

„Der Abbruch des eigenständigen Aufbruchs bedeutete den Sieg des passiven Elements über das aktive“, schloss Bernd Löffler seinen Vortrag ab.

Christa Luft begann mit der Feststellung, im Herbst 1989 habe sie ihre Antrittsrede an der Hochschule für Ökonomie gehalten. Eine Mitarbeit in einer Regierung sei zu diesem Zeitpunkt für sie nicht im Entferntesten absehbar gewesen. Ihrer Rede habe sie einige neue Aspekte kritischen Herangehens beigemischt: so habe sie sich gewünscht, dass Kollektive nicht im Nachhinein Beschlüsse gutheißen, sondern vorher an ihnen mitarbeiten sollten. Gegen die argwöhnische Abwehr wissenschaftlicher Veränderungsvorschläge in den Reihen der Parteihierarchie setzte sie den Satz, eine staatlich finanzierte Wissenschaft habe eine Bringschuld gegenüber der Gesellschaft.

Überhaupt seien in den 1970er und 1980er Jahren viele Überlegungen für gesellschaftliche Veränderungen erdacht und an politische Instanzen in Staat und Partei herangetragen worden. Meist habe es nicht einmal eine Eingangsbestätigung gegeben, auf drängende Nachfragen sei mit hinhaltender Taktik geantwortet worden, bis hin zur Drohung, solche Nachfragen nicht zu wiederholen.

Viele dieser Überlegungen seien Ende 1989 in ein neues Wirtschaftsreformprogramm für die Modrow-Regierung eingeflossen, das man in kürzester Zeit aufgestellt habe. Die Hauptpunkte lauteten: 

- Kombinate auf Kerngeschäft konzentrieren

- kleines privates Eigentum ermutigen

- kleine 1972 verstaatlichte Betriebe zurückgeben

Doch am 6.Februar 1990 teilte Kohl ohne Abstimmung mit der DDR-Regierung über die Medien mit, dass die D-Mark kommen wird. Finanzminister Waigel äußerte: „Wir geben Euch die harte Mark und die Marktwirtschaft.“ Damit war die Zeit für innerwirtschaftliche Reformen in der DDR abgeschnitten. Die Bundesregierung übernahm. Christa Luft: „Viele haben daran geglaubt, dass das Soziale bleibt, und die Läden trotzdem voll werden. Unser Vorschlag, ein großes Bildungs­programm mit BRD-Rücklagen zu finanzieren, wurde kriminalisiert.“

Sodann ging Luft auf den Vorwurf ein, die DDR sei pleite gewesen. Diese Meinung sei heute weit verbreitet und begründe die angebliche Alternativlosigkeit des wirtschaftspolitischen Handelns der Bundesregierung. Man berufe sich vor allem auf das Schürer-Papier (Schürer, Schalck-Golodkowski, Beil u.a.), das am 03.12.89 von Schalck-Golodkowski, beauftragt von Krenz, vorgelegt wurde.

Luft rief auf, sich konkreten Zahlen zuzuwenden und informierte, dass die Bank für den internationalen Zahlungsausgleich Basel 1990 die DDR-Schulden auf ca. 10 Mrd. $ bezifferte. Die Bundesbank sei acht Jahre später auf 19,9 Mrd. DM gekommen. Dies passe zusammen.

Sehr wahrscheinlich sei, dass weitere geheime Guthaben der Zahlungsbilanz der DDR (KOKO) in dieser Rechnung nicht inbegriffen gewesen seien, da die Geheimhaltung zu diesem Zeitpunkt noch funktioniert habe. So hätten Wertrücklagen und Außenstände der DDR in verschiedenen Ländern die Schulden weiter reduziert. Deshalb habe SDP-Finanzminister Romberg unter der De-Maiziere-Regierung auch weiter reduzierte Schuldenstände bekannt gegeben. Mithin stehe fest: die Erzählung von der Pleite sei ein Märchen.

Zu beachten sei auch, dass die westdeutsche Wirtschaft in der Ausstattung und Produktivität Weltspitze gewesen sei – 1989 habe die DDR 55 Prozent des westdeutschen Niveaus, immerhin aber 80 Prozent des britischen und 125 Prozent des spanischen Niveaus der Produktivität. Das sei nicht Null und nicht am Ende.

Einzubeziehen seien auch die Reparationsleistungen, die die SBZ in den Jahren nach 1945 für ganz Deutschland erbracht habe, und für die ein Ausgleich aus westdeutschen Kassen mehr als gerechtfertigt gewesen wäre. Mit Zinseszins seien 537 Mrd. DM an Reparationen geleistet worden.

Professor Frank Ettrich führte aus, er wolle in fünf Punkten Anstöße zur Diskussion beitragen, den Blick aber insgesamt ausgehend von den bereits diskutierten Fragen mehr nach vorn richten:

1. Heute stehe die Frage: Was könnten die, die kurz vor oder kurz nach der friedlichen Revolution geboren wurden, mit dem Aufbruch von 1989 anfangen, gerade die, die heute in Ostdeutschland darum kämpften, eine Zukunft aufzubauen? Wie könne man den Prozess des demografischen Wandels (der Weggang junger Menschen) heute aufhalten? Wo seien Ideen von damals, mit denen man heute etwas tun könne?

2. Wie könne man den Zustand einer abhängigen Region, die nicht Quelle eigenen Wachstums ist, abbauen und zu stärkeren eigenen Triebkräften kommen? (Der Abbau sämtlicher F+E-Kapazitäten mache ostdeutsche Regionen zur Transferökonomie und verlängerten Werkbank). Hierzu gebe es Möglichkeiten – Gründerszenen seien vorhanden, sogar abseits staatlicher Förderstrukturen.

3. Die Frage der Wahrnehmung ostdeutscher Gesellschaftsverhältnisse als guter Boden für rechtsextreme Gesinnung und Verortung müsse problematisiert werden. Eine Ursache: Seit 30 Jahren sei die Eröffnung gesellschaftlicher Debatten nach links versperrt.

4. Zu öffnen sei das gesamte Spektrum der Erfahrungen in der DDR - es habe auch emanzipatorische Erfahrungen gegeben: Formen jenseits der vollkommenen Ökonomisierung und der Verwertung des eigenen Ichs. Derzeit gebe es dazu eine ganze Reihe kritischer Publikationen. Das Treuhand-Thema werde aufgegriffen. Es gebe einen Kolonialismus-Diskurs, eine Zuspitzung der Bewertung.

5. Die Öffnung der Mauer habe die Semi-Peripherisierung eines sowjetisch kontrollierten Wirtschaftsgebiets in einer kapitalistischen Ökonomie bedeutet. Die Frage der blühenden Landschaft müsse von den Kohl-Kriterien entkoppelt werden. Gleichbleibende Lebensverhältnisse werde es niemals, nicht in zwei, drei Generationen geben. Die Frage sei: Was können wir tun, um jungen Menschen Mut zu geben, hier zu leben und nicht nach Baden-Württemberg zu gehen!

Insofern sei die Frage nicht so sehr, wie viel die DDR-Wirtschaft konkret noch wert gewesen sei, sondern was man hätte tun müssen und tun können, um eigenständige Perspektiven zu sichern.

Die Schulden der DDR seien 1989 auf dem Niveau des Saarlands gewesen.

Ettrich hob eine Reihe neuerer Forschungen hervor: „Langfrist-Arbeiten, Forschungen zum Wachstum, aber auch zu Klima, Modellrechnungen: die Frage ist, ob diese Forschungen aufgegriffen werden – Politiker folgen ganz anderen Logiken als Professoren, es gibt eine Beschleunigung der Prozesse.“ Gerade für Thüringen steckten in der Kulturwirtschaft und in einem sanften Tourismus große Potentiale.

In der sich anschließenden Diskussion im Plenum gingen Teilnehmer*innen zuerst auf die gegenwärtige öffentliche Diskussion über das Erbe der DDR ein.

80 Prozent der Literatur und der Zeitungsbeiträge befassten sich mit der Repressionsfrage und stünden eindeutig unter der politischen Vorgabe, abzuschrecken und zu verurteilen. Insofern werde der Kalte Krieg noch immer fortgesetzt.

Demgegenüber würden bestimmte problematische Züge der Übernahme der DDR und ihrer Wirtschaft immer noch stark unterbelichtet betrachtet, etwa die Motive und Hintergründe der schnellen D-Mark-Einführung. Ebenso stecke in den Kinderschuhen das Bemühen, das nach 1989 geschehene politische Unrecht aufzuarbeiten, das etwa an DDR-Lehrern oder an Menschen begangen wurde, die sich pauschal Kontakten zur Staatssicherheit schuldig gemacht hätten, im krassen Gegensatz zur Aufarbeitung nach 1945 in der alten BRD.

Christa Luft äußerte sich zu angefragten wirtschaftspolitischen Fragestellungen. Sarrazin als verantwortlicher Abteilungsleiter und andere Lobbyisten hätten entschieden, dass es keinen dritten Weg geben dürfe. Es sei aber die Bauchentscheidung der DDR-Bürger gewesen, ihnen darin zu folgen, auch angesichts einer ausgebliebenen Darstellung der mit diesem Weg verbundenen Risiken. Als Luft Köhler damals im Gespräch auf die Risiken dieses Weges für die Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Betriebe hingewiesen hätte, hatte dieser geantwortet: „Seien sie doch nicht so arrogant.“ Köhler habe das später ihr gegenüber eingestanden. 

Interessant sei gewesen, dass gerade frühere Oppositionelle aus der DDR kaum für die sofortige Vereinigung eingetreten seien. So habe Eppelmann zuerst von einer notwendigen Penizillinspritze statt einer Totaloperation gesprochen, sei aber nicht bei dieser Position geblieben. Rombach und Platzeck dagegen würden diese Sicht auch heute noch vertreten.

Der Kurs auf Privatisierung in der Treuhand habe bedeutet, die Wirtschaft der DDR und ihr Vermögen in der Eile innerhalb von vier Jahren zu verramschen, zu Lasten vieler Familien.

Bernd Löffler erinnerte daran, dass viele Menschen sich bereits 5 Jahre nach der Kohl-Wahl schon nicht mehr an ihre Wahlentscheidung erinnern wollten. Die „Kohl-Veranstaltung“ habe klare Regeln gehabt: „Schnur als Einpeitscher, de Maiziere als guter Onkel, Kohl als Überflieger.“ Immer wieder habe es Eingriffe von oben aus der West-Hierarchie gegeben, um den knallharten Marktwirtschaftsweg durchzusetzen, ab dem Zeitpunkt der Volkskammer-Wahl seien viele Verständigungsbemühungen auf untergeordneter Ebene abgebrochen.

Christa Luft wandte sich grundsätzlich dagegen, dass Grund und Boden als Spekulationsobjekte dienen würden, dies bedeute in großem Umfang leistungsloses Einkommen.

Zum Vermögenstransfer Ost nach West erklärte sie, dass zwischen 1992 und 1994 das Privatvermögen in NRW statistisch um 40 Prozent zugenommen habe, wobei die Übernahme der DDR einen klaren Fakt dargestellt habe. 1998 habe Kohl die Vermögenssteuer abgeschafft, was einen weiteren Schritt zur Ungleichentwicklung bedeutet habe.

Frank Ettrich zog einen Vergleich zur Behandlung Griechenlands. Auch hier sei quasi das Treuhandmodell angewandt worden und ein Ausverkauf öffentlichen Eigentums erfolgt. Auch in Chile sei ein ähnliches Modell der Schocktherapie angewendet worden. Man habe die Währungsreform an die Nachkriegszeit angelehnt und das Wirtschaftswunder als Wiederholung erwartet.

Als Soziologe stelle er bestimmte ostdeutsche Standards im politischen Diskurs fest: es gebe Wahrheit, es gebe Qualität. Parteien verzichten heute darauf, Dinge zu plakatieren, die von den Leuten wörtlich genommen werden könnten.

Er stelle fest, dass Studenten heute keine Ahnung von der Differenziertheit politischer Prozesse in der DDR hätten: selbst einfaches Wissen fehle. Allerdings hätten selbst große Historiker sich an der einfachen Delegitimierung beteiligt. So sei die Rolle der Gewerkschaften in der DDR in Wehlers Deutscher Geschichte ohne jeden konkreten historischen Nachweis falsch dargestellt, „und das ist noch nicht mal das schlimmste“.

Christa Luft ergänzte, symptomatisch für die Art des Übernahmeprozesses sei der Umgang mit dem Botschaftspersonal der DDR gewesen: „Nach einem Schreiben von Bundesminister Genscher wurden von 3.002 Mitarbeiter*innen 3.000 entlassen.“ Gleichzeitig sei ein Schreiben an die deutsche Wirtschaft erfolgt, keinen einzustellen. Die Freigesetzten erhielten Strafrenten. Nur die zwei mit den wertvollsten Akten wurden eingestellt.

Seit 1989 habe es interessante Interviews mit früheren Botschaftern gegeben, die aussagten, der Sowjetunion sei die DDR seit 1984 ein Klotz am Bein gewesen: seit dieser Zeit habe es  Annäherungsversuche mit mehreren Szenarien gegeben.

Die Investitionsströme nach 1989 hätten der Bundesrepublik genützt, so sei das Wirtschaftswachstum der BRD Anfang der 1990er Jahre angestiegen. (3,6 %, Saalheiser 2009)

Teilnehmer*innen der Diskussion ergänzten aus ihrer Sicht Aspekte in der Debatte.

So sei es unheimlich bedauerlich, dass die Vielfalt von Ideen und Stimmungen der Wendezeit nicht mitgenommen werden konnte in die 1990er Jahre und in die kommende Zeit. Dieses Potential habe sich zugunsten einer eigenen regionalen Entwicklung in Ostdeutschland nicht entfalten können.

Wichtige und wertvolle Standorte wurden sogar bewusst zerschlagen, wie Bischofferode zeige.

Rückstände bis zur Weltspitze in der Mikroeletronik hätten je nach Produkten zwischen drei und 10 Jahren betragen. Es seien Konzepte an Rohwedder gegeben worden, wie man Teile der Wirtschaft erhalten könnte: die DDR sei eines der wenigen Länder gewesen, die über ein durchgehendes Konzept in der Technologieforschung verfügt hätten: hier habe es z.B. weltmarktfähige Produktionslinien für Schaltkreise-Nischenprodukte gegeben: 300 Millionen DM sollten investiert werden: alle, die sich angestrengt haben, dort etwas zu bewegen, wurden abgewiesen.

Aufgeworfen wurde die Frage: Wäre die Bevölkerung bereit gewesen, einen anderen Weg mitzugehen? Ab welchem Zeitpunkt sei in der Masse nur noch ein Weg gesehen worden?

Es gebe Unterschiede in der Entwicklung der vergangenen 30 Jahre zu Polen und Russland.

Auf Nachfrage äußerte sich Frank Ettrich zur Nachwendeentwicklung in Russland und Polen im Vergleich zu Ostdeutschland. In Russland sei die primäre Akkumulation komplett als krimineller Prozess innerrussischer Eliten abgelaufen.

In Polen habe es stärkere Steuerung gegeben, neben Transformationskriminalität, hätten die EU-Integration und 40 Prozent bäuerliche Landwirtschaft andere Akzente gesetzt, es gebe ein höheres Maß an tatsächlichem Gründungsgeschehen, eine sich zunehmend selbsttragende Entwicklung.

Die soziale Abfederung (für Ostdeutschland) habe in der BRD bei aller Brutalität der Prozesse besser funktioniert als in Russland und Polen, aber die Mezzogiornoisierung sei hier deutlicher hervorgetreten. Ergo: Die polnische Entwicklung werde eigenständiger sein, auch wenn das Armutsniveau höher ist.

Auf Nachfrage führte Christa Luft aus, dass es eine klare Anweisung Genschers gegeben habe, dass kein Ost-Diplomat in der UNO etwas zu suchen habe. Auch Kinkel habe später selbst Ost-Diplomaten mit seltenen Sprachen abgelehnt.

Wirtschaftlich ergänzte sie ihre Ausführungen durch das Beispiel des VEB Wärmekraftanlagenbau Berlin, 1990 mit vollen Auftragsbüchern, der erst privatisiert (Schätzung 160 Mill DM), ein Schweitzer kaufte das für 1,6 Millionen – und dann zerschlagen wurde. Territorium und Maschinen wurden verkauft, Patente verkauft.

Die tatsächlichen Gründe der radikalen Kurskorrektur in der Treuhandanstalt müssten bis heute als offen gelten und harrten der Aufarbeitung.

Bernd Löffler ging noch einmal auf die unmittelbare Situation nach der Maueröffnung ein:

„Ab 9.11. ging die Maschinerie der Apparate im Westen los.“ Ein Projektantrag der Offenen Arbeit dazu an die Stiftung Aufarbeitung wurde abgelehnt, da keine anderen Inhalte förderfähig seien als Diktaturaufarbeitung.

Löffler abschließend: „Die Revolution ist ein Prozess. Perspektivisch kann, muss und wird Gesellschaftsveränderung weitergehen. Zum Leben gehört mehr als Arbeit – gerade für junge Menschen.“

Aus Thüringen gingen heute junge Leute weg, weil sie mit zu vielen Nazis zu tun hätten, weil der große grundsätzlich autoritätsgläubige Teil der Bevölkerung positive Veränderungen erschwere.

Für die Zukunft sei er nicht ohne Optimismus: „Es gibt Augenblicke, wo sich das Fenster für emanzipatorische Entwicklungen öffnet, und dann muss man sie wahrnehmen, sonst ist es für lange Zeit wieder zu. Das müssen wir beim nächsten Mal bedenken.“

In seinem Abschluss-Statement stellte Frank Ettrich fest, die „friedliche Revolution“ sei keine Revolution gewesen. Er sah es als wichtig an, „linke Ideen von ihrer spezifischen Form in der DDR zu befreien.“ „Dies ist schmerzhaft, aber die DDR war eine konkrete historische Form nach dem Zweiten Weltkrieg, sie hatte alle Geburtsfehler, die wir kennen. Alle wichtigen sozialen und bürgerschaftlichen Rechte müssen mit adäquater Zeitgeschichte verbunden werden.

Nicht zuletzt: Es geht darum, Eigentumsrechte breit zu verteilen, das macht Menschen und eine Gesellschaft freier.“

Die Integration der DDR sei eine „kapitalistische Landnahme“ gewesen, „für viele Menschen mehr als schmerzhaft“. Heute stehe mit Blick auf die DDR die Frage: „Was wären Errungenschaften, die für heute anwendbar sind in einer Form, die junge Menschen interessieren und auf ihre Seite ziehen kann?“

Dr. Steffen Kachel