Veranstaltungsberichte

Bildungsreise nach Katalonien

 

Der folgende Bericht ist das Ergebnis einer Bildungsreise nach Katalonien, welche von der Rosa Luxemburg Stiftung Thüringen organisiert wurde und vom 9. bis 13.10.2017 stattfand, also mitten in der Krise um die Unabhängigkeitsbestrebungen der autonomen Region. Dieser Bericht umfasst die subjektiven Beobachtungen und Erfahrungen aus Gesprächen, Vorträgen und Besichtigungen von vier der insgesamt 20 Teilnehmenden. Er ist das Resultat mehrerer Treffen in Barcelona, Vilanova i la Geltru und Badalona. Andere Teilnehmende mögen andere Beobachtungen gemacht, sich andere Informationen notiert oder die Bewertungen anders gesetzt haben.

Wir danken Raul Zelik für die Organisation der Treffen und die Übersetzung.

Diesen Bericht haben erarbeitet: Uwe Flurschütz, Steffie Kosmalski, Bernd Löffler und Christian Schaft.

Bernd Löffler, für die RLS Thüringen

 

09.10. Vortrag von Raul Zelik

In einem Einleitungsvortrag beschrieb Raul Zelik die politische Situation in Katalonien und die lange Geschichte dieses Konflikts. Die 1978 nach dem Tod Francos ausgerufene neue Verfassung sah neben dem Wiederentstehen der Monarchie eine begrenzte Autonomie der verschiedenen spanischen Regionen vor. Allerdings wurde Spanien nicht zum föderalen Staat wie die BRD. Bei dem Prozess der Transicion (also dem Übergang vom Franquismus in einem demokratischen Staat) handelte es sich in erster Linie um einen Elitenpakt von Franquisten mit der neuen Sozialdemokratie unter Zustimmung der Kommunistischen Partei. Dagegen lehnten die bürgerlichen Parteien Kataloniens den Pakt ab. Denn die Verbrechen des Franquismus wurden in keiner Weise aufgearbeitet, Polizei, Armee und Justiz nicht reformiert. Und: Katalonien erhielt keine Steuerautonomie. Diese wiederum ermöglicht die notwendigen politischen und sozialen Veränderungen. Der Streit darüber hält bis heute an und ist einer der Hauptgründe der Auseinandersetzungen.

Nach der Machtübernahme durch den PSOE-Politiker José Luis Rodríguez Zapatero im Jahr 2004 hofften viele Menschen auf eine zweite Transicion. Ein neues Autonomiestatut wurde erarbeitet. Aber schon im Prozess der parlamentarischen Diskussion wurde es an vielen Punkten verändert und schließlich vom obersten Verfassungsgericht verboten. Daraufhin setzte sich in der katalanischen Gesellschaft die Ansicht durch, dass man mit diesem spanischen Staat nicht reden könne. Ab 2009 organisierten lokale Consultas Massendemonstrationen. Im Jahr 2014 startete der Versuch eines Referendums, der sofort vom Verfassungsgericht wieder verboten wurde und dann als „plebeszitäre Wahlen“ stattfand. Daran beteiligten sich aber nicht die Linksradikalen, die nun die Forderung nach Unabhängigkeit zur Sprache brachten. Neue Bewegung in der Auseinandersetzung kam mit den Platzbesetzungen und Demonstrationen der Indignados und der M15-Bewegung ins Spiel. Es wurde eine Asamblea Nacional Catalana (ANC) gegründet, die nun die katalanischen Parteien politisch vor sich her trieb.

Parallel dazu entstanden munizipalistische Bewegungen. Diese stellen ein Machtprojekt von Unten dar, welches die Basisorganisationen in Städten, aber auch Dörfern und Gemeinden stärkte und soziale Projekte startete. Mit offenen Wahllisten wurden viel dieser Städte und Orte „erobert“. Unter anderem auch Barcelona, wo die Bewegung Barcelona en Comu´ mit ihrer populären Bürgermeisterin Ada Colau seit nunmehr zwei Jahren regiert.

Wenige Menschen in Katalonien bezeichnen sich Nationalist*innen (das sieht anders bei jenen Menschen aus, die zum spanischen Staat halten). Es gibt eine ausgeprägte Solidaritätsbewegung für und mit Flüchtlingen. Viele Menschen verweisen auf eine 60jährige Geschichte sozialer Bewegungen. Überall entstanden und entstehen neue Nachbarschaftszentren, Projekte, Genossenschaften und Kooperativen. Diskutiert wird vor allem die Frage, ob eine Staatsbildung sinnvoll sei, oder ob es nicht um eine Veränderung von Unten in ganz Spanien gehe. Die Befürworter*innen der Unabhängigkeit berufen sich auf die Erfahrungen mit dem Staat und betrachten die Unabhängigkeit als einzige Möglichkeit, diese Veränderungen zu beginnen.

Rundgang durch  Vilanova i la Geltru und ein erster Einblick in die Bewegungen vor Ort

Von Joan Deya, einem jungen Mann vom Colectivo Juvenil La Brega, bekamen wir einen Einblick in die örtlichen Verhältnisse von Vilanova. Die Stadt mit ca. 70.000 Bewohner*innen liegt ungefähr 40 Zug-Minuten von Barcelona entfernt und ist mehr oder weniger eine Schlafstadt. Sie besteht aus einem alten Stadtkern, um den in den 70-er Jahren Erweiterungen angelegt wurden. Es gibt nur geringe Industriestrukturen, die meisten Beschäftigten im Ort arbeiten im Tourismus oder im Dienstleistungsbereich. Die Arbeitslosigkeit bei Erwachsenen beträgt knapp 30 %, bei Jugendlichen sogar 50%. Der Gemeinderat von Vilanova wird von einer Minderheitsregierung aus Liberaldemokraten und katalanischen Sozialdemokraten geführt. Die links-alternative und antikapitalistische Kandidatur der Volkseinheit (CUP) ist zweitstärkste Kraft im Gemeinderat.

Joan führte uns zu zwei selbstorganisierten soziokulturellen Zentren, von denen es 15 in der Stadt gibt. Daneben gibt es noch 12 Nachbarschaftseinrichtungen, die von der Stadt finanziert werden.

Besucht und organisiert werden die soziokulturellen Zentren von einem breiten Publikum, das aber hauptsächlich zwischen 25 und 35 Jahre alt ist. Hauptaufgaben der selbstverwalteten und städtischen Zentren sind die Pflege und Erhaltung der katalanischen Kultur. Dazu gehört dann auch Folklore mit Volkstanz und Volksfesten. Begriffe wie ‚Kultur‘ und ‚Folklore‘ von radikalen Linken als gelebte Praxis zu hören, hat wohl die meisten von uns Teilnehmenden an der Reise verwirrt. Dieser Verwirrung sollten wir noch öfter begegnen. Die Ursache dafür liegt in einer anderen Vorstellung von katalanischer Kultur, die sich nicht auf etwas Altes, festgefahrenes wie ‚deutsche Leitkultur‘ gründet, wie wir spätestens bei unserem Besuch bei Omnium Cultural erfahren sollten.

Die Finanzierung der selbstorganisierten Zentren erfolgt ohne staatliche Unterstützung, einzig durch Spenden oder den Verkauf von Getränken etc. vor Ort oder bei einem jährlichen Musikfestival. Trotzdem ist die Nutzung der Zentren kostenlos und nicht auf Kommerz ausgerichtet. Eines der Zentren, das wir besuchen konnten, befindet sich in einer ‚angeeigneten‘ Bankfiliale, die während der Finanzkrise geschlossen wurde. Somit müssen dort keine Mietkosten eingespielt werden.

Die ehemalige Bankfiliale liegt in einem 80-er Jahre Neubauviertel, in dem weniger wohlhabende Menschen leben. Diese Leute wurden von der Immobilienkrise 2007 oft besonders hart getroffen, da sich viele für Wohneigentum als scheinbar sichere Geldanlage verschuldet haben, doch dieses jetzt nicht mehr viel wert ist. Seitdem verbreitet sich das ‚Mieten einer Wohnung‘, wobei die Miete oft 1/3 des Lohnes kostet. Bei einem Mindestlohn von 660€ bei einer 40-Stunden-Woche bleibt nicht mehr viel übrig, wie uns Joan aus eigener Erfahrung berichtete.

Die Bankfiliale wurde vor 4 Jahren von Jugendlichen besetzt, wird von diesen selbst verwaltet und bietet unterschiedlichsten Gruppen eine Anlaufstelle. Dort treffen sich u.a. eine Antirepressionsgruppe, eine vegane Tierrechtsgruppe, die lokale Antifa, eine Initiative gegen Zwangsräumungen und der lokale Ableger von Arran, einer Gruppierung, die durch Aktionen gegen Tourismus und dessen Auswirkungen auf Stadtviertel, Bewohner*innen und Beschäftigte bekannt geworden ist.

Rund um das Referendum am 1. Oktober bildete sich auch in Vilanova ein CDR, ein Komitee zur Verteidigung des Referendums, das sowohl als Schutz, als auch als Informationszentrale diente. Nach dem Referendum verstehen sich die CDRs als Komitees zur Verteidigung der Republik und als Orte für die Aufarbeitung der psychischen Folgen der gewaltsamen Polizeiübergriffe am 1.Oktober.

Die letzte Station unserer kleinen Stadtführung war das Parteilokal der Linken, welches als Ort für generationenübergreifende Organisatin gesehen wird und in dem sich die CUP, aber auch eine Rätegewerkschaft (Coordinadora Obrera sindical - COS) und eine Food-Coop regelmäßig treffen.

 

10.09. Kulturverein „Omnium Cultural“

Den Kulturverein „Omnium Cultural“ gibt es seit den 1960er Jahren. Er wurde klandestin gegründet, um die katalanische Sprache und Kultur zu bewahren und zu pflegen in Erwartung einer demokratischeren Gesellschaft. Katalan war zu diesem Zeitpunkt verboten. Im Moment befindet sich der Vorsitzende von Omnium Cultural – Jordis Cuixart wegen „aufrührerischem Verhalten“ in Untersuchungshaft. Seine Organisation zeichnet sich verantwortlich für die Kampagne „deixin votar els catalans“ (Lassen sie die Katalanen abstimmen.)

Auf dem Weg in die Räumlichkeiten von Omnium Cultural kommen wir am 10. Oktober 2017 an einem Wachmann vorbei. Es herrscht am Tag unseres Besuchs alltägliches Bürotreiben. Im Besprechungsraum hängen die Bilder sowohl aller Präsident*innen als auch der Gründungsmitglieder aus dem Jahr 1961 gerahmt an den Wänden. Zunächst stellt uns Elena Jiménez i Botías Omnium Cultural und dessen Entwicklung in den letzten Jahren vor, danach folgt die klassische Fragerunde.

Omnium Cultural finanziert sich beinahe ausschließlich über Mitgliedsbeiträge von über 65.000 Mitgliedern und nur minimal durch indirekte staatliche Förderungen. In Katalonien ist die Organisation mit 40 lokalen Außenstellen vertreten. Dort engagieren sich sehr viele Menschen ehrenamtlich, es gibt rund 60 Festangestellte. Verschiedene kulturelle Projekte, wie ein Literaturpreis für katalanische Literatur oder die Förderung des sozialen Zusammenhalts, um dadurch Kultur auch für sozial Schwächere zugänglich zu machen, sind die Aktivitäten, die Omnium Cultural auszeichnen. Besonders begeistert erzählte Jiménez i Botías von einem Ausstellungsprojekt, an dem sehr viele gesellschaftliche Gruppierungen beteiligt waren, welches politische Kämpfe seit den 1960er Jahren dokumentiert und präsentiert. Der Schwerpunkt auf politische Fragen entwickelte sich innerhalb von Omnium Cultural vermehrt seit dem Scheitern der Förderalreform 2010. Mit den ersten größeren Demonstrationen für die katalanische Unabhängigkeit im September 2012 wurde auch innerhalb von Omnium Cultural die Entscheidung getroffen, sich in die politische Debatte einzumischen und die Assemblea Nacional Catalana (kurz ANC) mit Blick auf die Forderung nach der katalanischen Unabhängigkeit zu unterstützen.

Auf die Fragen nach ihrer Definition des „Katalanischen“, das immer wieder als Schlagwort fällt und ob sie nicht befürchtet, dass die Forderung nach einem unabhängigen Katalonien neue gesellschaftliche Ausschlüsse schafft, antwortet Jiménez i Botías mit einem recht offenen Konzept, dessen, was sie als katalanisch versteht. Alle diejenigen, die in Katalonien leben und gewisse Wertevorstellungen teilen, gehören dazu. Hier zählt sie verschiedene Gesetzesprojekte auf, wie das angestrebte Verbot der Stierkämpfe, ein Abtreibungsrecht, welches Frauen in ihrer Selbstbestimmung stärkt, Umweltschutzgesetze oder Maßnahmen, um ärmere Schichten zu unterstützen. Dabei trifft das katalonische Parlament oft auf Widerwillen der Zentralregierung. Generell stellt sie es als schwieriges Unterfangen dar, den politischen Diskurs in ganz Spanien zu beeinflussen und auf dieser Ebene für einen politischen Wandel zu kämpfen. Zu tief wirkt das lange Zeit etablierte Zweiparteiensystem. Dieses wurde zwar durch die linke Partei Podemos aufgebrochen, jedoch hat diese im letzten Jahr wieder viele Stimmen verloren. Im Fokus von Omnium Cultural steht zunächst das Erringen der Unabhängigkeit Kataloniens und den damit verbundenen Mitteln der politischen Selbstbestimmung. Worum es Omnium Cultural nicht geht, ist ein Streben nach Unabhängigkeit, um als ökonomisch stärkste Region diesen Reichtum für sich allein zu beanspruchen. Am Schluss ist es der Vertreterin von Omnium Cultural ein Anliegen zu betonen, dass sie gemeinsam mit ANC eine Kampagne für die Demokratie und für das Referendum organisiert haben, nicht ob die Menschen mit JA oder NEIN abstimmen sollen.

Besuch im katalanischen Parlament

Auf Einladung von zwei Abgeordneten der Fraktion Junts pel Si (Übersetzt „Zusammen für Ja“ fand ein Besuch im katalanischen Parlament statt. Der Besuch stand dabei im Zeichen der angekündigten und mit hohen Erwartungen verbundenen Rede des katalanischen Ministerpräsidenten Carles Puigdemont am Abend. Unklar war zu dem Zeitpunkt ob er die Unabhängigkeit und die Republik proklamieren würde oder nicht. Das Gespräch wurde geführt mit den Abgeordneten Jordi Miquel Sendra Velle und Chahier el Homanri. Die Besonderheit des katalanischen Parlaments besteht auf Grund der Hintergründe der Regionalwahlen im Jahr 2015 darin, das eine große Zahl der Abgeordneten keine „klassischen“ Politiker*innen sind. Die Wahlen 2015 wurden als plebiszitäre Wahlen betrachtet, um eine de-facto-Abstimmung über die Frage der Unabhängigkeit zu erreichen. Die Partei bzw. das Bündnis Junts pel Si, ging dabei aus einer gemeinsamen Liste der bürgerlichen Mitte-Rechts-Partei Convergencia Democratica de Catalunya (CDC ) und der linksrepublikanischen Esquerra Republicana de Catalunya hervor. Auf die Liste wurden vorrangig Personen aus unterschiedlichsten Gesellschaftsbereichen gesetzt. Auch Jordi Miquel Sendra Velle und Chahier el Homanri waren zuvor nicht parteipolitisch tätig.

Unterstützt wird die Fraktion, besteht aus 63 Abgeordneten, in dem Bestreben nach der Unabhängigkeit von der linken und antikapitalistischen Partei Candidatura d’Unitat Popular (CUP). Die beiden Abgeordneten machten in diesem Kontext deutlich, dass das gemeinsame Ziel die Unabhängigkeit ist und darüber hinaus unterschiedliche Vorstellungen existieren, wie ein unabhängiges Katalonien ausgestaltet werden soll. Erläutert wurde auch das Gesetz zur Durchführung des Referendums. Dieses sah vor, dass bei einem Ja zur Unabhängigkeit das Parlament binnen 48 Stunden zusammenkommt und die Unabhängigkeit erklärt. Diese Frist wurde nach dem Einschreiten der spanischen Polizei und den Fällen der Behinderung des vom spanischen Verfassungsgericht für illegal erklärten Referendums durch Polizeigewalt bewusst nicht beachtet, um im innerhalb einer Woche einen Raum für Dialog zwischen Katalonien und Spanien zu schaffen, auch mit internationaler Unterstützung.   

Die Chance, dass dieser Dialog wirklich aufgenommen wird, wurde von beiden Abgeordneten allerdings als gering betrachtet. Vor allem da es seit 2015 nach den Regionalwahlen mehrfach versucht wurde, einen solchen Dialogprozess zu initiieren. Daher sei die Durchführung des illegalen Referendums am 01.10.17 der einzige Ausweg gewesen. Beide berichteten in diesem Zusammenhang von diversen Repressionen. Diese reichten von beschlagnahmter Post, über verdachtsunabhängige Personalkontrollen, dem Verbot von Versammlungen, der Beschlagnahmung von Plakaten (auf denen nur „Democracia“ zu lesen war) bis hin zur Schließung und Störung von Websites. Beide gingen davon aus, dass diese Repressionen fortgeführt und noch an Intensität zunehmen werden, wenn die Unabhängigkeit proklamiert wird. Jordi Miquel Sendra Velle formulierte dazu deutlich: „Jetzt geht es nicht mehr nur darum das Referendum zu verteidigen. Es geht darum die Demokratie und Grundrechte zu verteidigen, wenn der Staat diese einschränkt.“

Auf die Nachfrage, wie sich die Unabhängigkeitsbewegung zur EU verhalte, führten beide aus, dass es eine pro-europäische Haltung in weiten Teilen der Bewegung gäbe, diese allerdings derzeit schwinde, da die Europäische Union im Konflikt um Katalonien weitgehend schweige und sich darauf zurückziehe, dass es sich um einen innerspanischen Konflikt handeln würde. Dabei hegen beide den Wunsch, dass die europäische Staatengemeinschaft sich einmischt, um die demokratischen Rechte der Bürger*innen zu verteidigen und Spanien zum Dialog zu bewegen. Die Unterstützung aus dem Ausland sei auch wichtig, um den Bürger*innen wieder Mut zu machen, denen noch der Schock von der erfahrenen Polizeigewalt der Guardia Civil vom Tag des Referendums in den Knochen steckt. Diesen Menschen fühlen sich die beiden Abgeordneten und ihre Fraktion verpflichtet, die Unabhängigkeit zu verwirklichen.     

 

11.10. Treffen bei Barcelona en Comú

Ein Gespräch mit „Chavi“, dem Koordinator für internationale Beziehungen.

Barcelona en Comú entstand aus der Bewegung PAH (Plataforma de Afectados por la Hipoteca). Diese unterstützt seit der großen spanischen Staatskrise von 2015 die von Zwangsversteigerung bedrohten Betroffenen der Krise, die ihre Hypotheken nicht mehr bedienen können. Die PAH und andere Organisationen wurden gefragt, ob sie nicht eine organisatorische Plattform oder eine neue Partei bilden wollten. In Barcelona entschieden sich die Initiativen gegen eine Parteigründung im gesamtspanischen Maßstab. Sie wählten die Form einer lokalen Partei, in welcher die Menschen, die sie organisiert, sich direkt einbringen, bestimmen und entscheiden können. Die daraus entstanden Partei Barcelona en Comú (BeC) versteht sich als ein neues Projekt, die andere Parteien, Bewegungen und Einzelpersonen zum Mitmachen einlädt, ohne sie führen zu wollen. Vieles macht sich an der Person der Bürgermeisterin Ada Colau fest. Die meisten Menschen kennen nur sie und ihren Blog, andere fragten, weshalb denn eine Frau die Partei führe.

Die beiden ersten Jahre der Regierung waren ein „langer, verrückter Prozess“. Die meisten Aktiven kamen aus den verschiedenen Bewegungen und mussten sich in das System von Verwaltung und Strukturen hineindenken, sich einarbeiten und eigene Strukturen schaffen. Schwierig für die neue Partei/Bewegung ist zudem die Zusammensetzung der Fraktionen im Rathaus: Im Prinzip regiert Barcelona en Comú mit 11 (von 41) Abgeordneten und mit Unterstützung von 4 Abgeordneten der PSOE (Sozialdemokraten). So kam es vor, dass ein Vorschlag über die Errichtung freier Kindergärten von anderen Parteien zwar für gut befunden, aber aus „Prinzip“ abgelehnt wurde. Ein Vorgang, der auch in Deutschland nicht unbekannt ist.

In ihrem 45 Punkte umfassenden Programm will Barcelona en Comú keine Maximalforderungen aufstellen. „Wir wollen nicht versprechen, was wir nicht einhalten können. Wir lehnen es ab zu schreiben: Wir stürzen den Kapitalismus, weil wir dies zwar durchaus wollen, aber es zum jetzigen Zeitpunkt nicht realistisch ist“ (Chavi). Bei den Beschreibungen mischen sich der Glaube an den Fortschritt vermittels dieser Bewegung und ein Stück Resignation: „Es waren keine zwei Jahre des Glücks“ (Chavi). Es wurde schnell klar, dass die vertikale Struktur der Macht im Rathaus sich mit der horizontalen Arbeitsweise von BeC beißt. Die Partei/Bewegung setzt dabei auf ihre ethischen Grundsätze. Die maximale Geldzuweisung für Abgeordnete beträgt z.B. 2.200 €. Eine zusätzliche Bezahlung für irgendwelche Leitungen wird nicht akzeptiert.

Das Ziel einer radikalen Demokratisierung und Partizipation wird nicht aus den Augen verloren. Dafür habe man in den letzten zwei Jahren viel getan, so Chavi. Aber man sei nicht in der Lage wirklich große Veränderungen zu erreichen, da man weder über eine Zeitung noch einen Fernsehsender verfüge.

In der Katalonienfrage stellt sich BeC eher kritisch gegenüber den Unabhängigkeitsbefürworter*innen auf. Die territoriale Krise falle zusammen mi einer sozialen Krise. Zudem sei Spanien tief undemokratisch. Es habe nie wirklich mit der Diktatur gebrochen. Als die spanische Regierung und das Verfassungsgericht im Jahr 2010 den Prozess zur Reformierung der Autonomie Kataloniens stoppte, entstand dort natürlich die Frage: Wie weiter? Darauf antworten viele Menschen und Organisationen mit der Forderung nach Unabhängigkeit. Als dann 2015 noch die Bewegung der Indignados scheiterte, kam die große Chance für den katalanischen Nationalismus. Für die bürgerlichen Nationalist*innen sei dies ein Kurs mit dem Ziel der Machtübernahme. Für BeC sei jedoch ein „rotes“ Spanien wichtiger als ein föderales. „Wir sind Internationalisten – nicht Nationalisten“. BeC sei für einen Dialog der beiden streitenden Parteien. Sich selbst alles andere als staatstragend bezeichnend, finden die Aktivist*innen von BeC, dass in dieser gefährlichen Zeit die Aussetzung der Unabhängigkeit durch den katalanischen Ministerpräsidenten Puigdemont (10.10.) richtig gewesen sei. Jetzt öffne sich ein Fenster von Möglichkeiten. Doch sei eine hohe Sensibilität erforderlich. Man müsse zurück zur Forderung: Wir wollen Selbstbestimmung.

Schließlich forderte Chavi einen neuen Raum wie das Weltsozialforum der früheren Jahre, allerdings für städtische Bewegungen. Es gehe um die Schaffung eines großen gemeinsamen Arbeitsraums für eine weltweite munizipalistische Bewegung.

Besuch in Badalona: Guanyem Badalona en Comú

Am Nachmittag des 11. Oktober fuhren wir nach Badalona, einer Stadt mit 200.000 Bewohner*innen. Dort trafen wir Laia Sabater Díaz und Jose Téllez, die als 3. bzw. 2. Bürgermeister*in der Stadt, von Guanyem Badalona en Comú, eine linke Wahlplattform. Guanyem Badalona ist seit der letzten Wahl 2015 die stärkste Fraktion im Stadtrat und stellt auch die Bürgermeisterin von Badalona. Wobei wichtig zu wissen ist, dass ein*e Bürgermeister*in dort mehr Macht hat als in Deutschland. Getragen wird Guanyem von Menschen aus der CUP und von Podemos. Sie haben zwei Grundlagen, nämlich dass es keine Parteienkoalition ist und dass die Frage der Selbstbestimmung eine wichtige Rolle spielt. Außerdem arbeiten alle als Personen und nicht als Parteivertretung mit. Mit dabei sind sowohl Befürworter*innen einer Unabhängigkeit, wie auch eines Föderalstaates, in dem eine Republik Katalonien einen Zusammenschluss mit anderen Republiken eingehen soll. Grundkonsens des Bündnisses vor der Wahl 2015 war das Ziel der Abwahl des Bürgermeisters und ein neues Stadtmodell in Form einer „gemeinsamen Stadt“. Ihren Wahlkampf haben sie nur auf Catalan geführt. Sie vertreten die Auffassung, dass eine gemeinsame Sprache Inklusion ermöglicht, denn es gibt viele Sprachen mehr in der Region und so ist Katalanisch das verbindende Element, was von 95% der Menschen verstanden wird. Sprache ist für sie kein ethnizistisches Element, sondern viel mehr Mittel zur Überwindung der Trennung.

Das Bündnis wurde erst 2 Monate vor der Wahl gegründet und so war der Sieg doch ein gewisser Schock für alle Beteiligten. Plötzlich mussten sie eine Stadt verwalten. Das führte zum Rückzug einiger Aktiver und durch das Eintauchen in die Institutionen fehlt nun oftmals die Möglichkeit der Rückkopplung an die Bewegung. Trotzdem versuchen sie die Basis an wichtigen Entscheidungen teilhaben zu lassen. Während sie früher monatliche Versammlungen abhielten, ist diese Struktur für kurzfristige Entscheidungen kaum geeignet. Jetzt gibt es 2 Vollversammlungen pro Jahr und für kurzfristige Entscheidungen einen Rat aus 50 Delegierten. Außerdem noch Arbeitskreise für bestimmte Themen, an denen sich alle Mitglieder beteiligen können, sowie Arbeitsgruppen für die Ortsteile und außergewöhnliche Vollversammlungen für wichtige Themen. Was jetzt nach großer Basisbewegung klingt, muss allerdings unter der Einschränkung betrachtet werden, dass die 6 beteiligten Organisationen zusammen trotzdem nur 160 Mitglieder haben.

Ihre Bilanz nach 2 Jahren an der Stadtregierung ist ein positives Image der Stadt und dass der Wechsel der grundsätzlichen Politik wahrgenommen wird.

An konkreten Projekten können sie nach 2 Jahren vorweisen, dass Partizipation – also Beteiligung der Bürger*innen – ein verpflichtendes Element der Stadtregierung geworden ist. So werden 14 Millionen € pro Jahr über einen Bürger*innenhaushalt vergeben. Außerdem werden jetzt verstärkt Projekte der „Microurbanistik“ umgesetzt. Ziel ist es durch die Beteiligungsmöglichkeiten Menschen über Guanyem hinaus zu erreichen und einzubinden.

Ein großes Projekt der aktuellen Stadtregierung ist die Reprivatisierung der Wasserversorgung, was sie noch vor einige Herausforderungen stellt.

So stehen die Aktiven von Guanyem Badalona vor einer Vielzahl von Herausforderungen, die sie langsam und stetig, aber vor allem unter Einbeziehung der Bevölkerung, bewältigen wollen, um die Stadt als lebenswert für alle zu erhalten, bzw. wieder dazu zu machen.

 

12.10. Barcelona Sants / Stadtführung

Am Donnerstag stand vor dem Einblick in die Arbeit von Genoss*innenschaften eine Führung durch den Stadtteil Barcelona Sants an. Dieser gilt als altes Arbeiter*innenviertel. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich dort eine selbstorganisierte Arbeiterklasse im Rahmen der Industrialisierung heraus. Die neuen Lebens- und Arbeitsbedingungen die mit der Industrialisierung ein her gingen, forderten eine Antwort auf die strukturelle Gewalt der Kapitalseite. Uns wurde dabei erläutert, dass zunächst durch das Verbot von Fabrikansiedlungen in der Innenstadt, außerhalb von Barcelona Fabriken und Arbeiter*innensiedlungen entstanden. Der Industriegürtel wurde erst 1895 in die Stadt integriert. In diesem Gürtel entstanden neue Organisationsformen der Arbeiter*innen. Vier Ziele der proletarischen Bewegung zu dieser Zeit lassen sich formulieren. Erstens die Verteidigung der Löhne und Arbeitsrechte. Zweitens die Organisation der gegenseitigen Hilfe unter den Arbeiter*innen. Drittens der Aufbau einer Selbstversorger*innenökonomie. Und viertens die Etablierung von eigenen Bildungs- und Kulturangeboten. Ausgehend davon entwickelten sich zunehmend Solidarkassen und Produktions- und Konsumgenoss*innnenschaften.

Es entstand gewissermaßen eine Art proletarisch organisierter Parallelgesellschaft, verbunden mit der Forderung nach einer sozialen Republik die sich auf den Alltag der Menschen positiv auswirkt. Das Viertel Sants fungierte dabei als Ökosystem für proletarische kulturelle Räume, Theater, freie Schulen mit einer ausgeprägten anarchistischen-syndikalistischen Bildungsarbeit und Arbeiter*innenkneipen. Dieses Gefüge, das sich um die Jahrhundertwende herum ausbildete, erklärt auch zum Teil das starke Aufstandsgefühl in Barcelona und Umgebung, auch im Rahmen der Diktaturen in den 1920er Jahren und später unter Franco.

Ihren Höhepunkt hatte die Bewegung in den Jahren 1915 bis 1919. In diesem Zeitraum spielten die Genoss*innenschaften eine große Rolle bei den proletarischen Protesten. Ihren großen Erfolg hatte die katalanische Arbeiter*innenbewegung bei einem Generalstreik im Jahr 1919, der sich auf ganz Barcelona ausweitete und die Einführung des 8-Stunden-Tages mit sich brachte. Die Unternehmer*innen versuchten allerdings durch eine Lohnaussetzung die Arbeiter* innen gewissermaßen auszuhungern, was nochmal zur Aufwertung der  Genoss*innenschaften führte da diese die Versorgung über mehrere Wochen gewährleisten konnten.

Die Antwort der Unternehmer* innen war die Entsendung von Todesschwadronen, um relevante Akteur* innen der Bewegung auszuschalten. Mit der Diktatur unter Primo de Rivera ab den Jahr 1923 und dem Bürger*innenkrieg in den 1930er Jahren sowie der folgenden Franco-Diktatur kam es zum Bruch mit dem System der solidarischen Wirtschaftsformen in der bisher gekannten Art und Weise. Gab es während des Bürger*innenkriegs noch durch die Kollektivierung der Industrie durch die Arbeiter*innen Barcelonas, die Kommunalisierung der Böden, Gebäude und Finanzen ein Aufbäumen der Bewegung, so versuchte Franco danach die Genoss*innenschaften durch Schließung sterben zu lassen. Deshalb konnte nicht einfach an diese Vergangenheit nach dem Ende der Diktatur angeknüpft werden. An den Erfahrungen aus der Zeit des frühen 19. Jahrhunderts anknüpfend, versucht nun u.a. die Initiative Coopolis 57, deren Vertreter*innen auch die kurze historische Führung durch Sants durchführten. Die Aufarbeitung der Geschichte der Genoss*innenschaften und Arbeiter*innenbewegung sollen das Verständnis wecken, für Formen der solidarischen Ökonomie und Menschen befähigen ebenfalls in Form von Genoss*innenschaften, Kooperativen oder Kollektiven vor Ort zu wirtschaften im Sinne und zum Wohl der lokalen Bevölkerung.

Solidarische Ökonomie

Aus der historischen Erfahrung einer proletarischen Kultur und dem Funktionieren einer solidarischen und auf Kooperation ausgelegten Ökonomie in Barcelona entwickeln sich noch heute entsprechende Wirtschaftsformen. Beim Besuch der als Leser*innengenoss*innenschaft organisierten Zeitung La Directa mit einer Auflage von 2.500 Exemplaren bekamen wir einen Einblick in die aktuelle Entwicklung der solidarischen Ökonomie. Das Epizentrum dieser Bewegung ist das soziale Zentrum Can Batlló, das sich auf einem 11.000 m² großen ehemaligen Fabrikgelände befindet, und wie viele andere soziale Zentren in Barcelona im Kampf von Nachbar*innenschaftsinitiativen erstritten und anschließend mit Leben gefüllt wurde. Das Ziel der lokalen Genoss*innenschaften, Kollektiven und Kooperationen ist es, ein Angebot an Waren und Gütern des alltäglichen Bedarfes zu schaffen, das sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert. Dies gilt aber auch für soziale Angebote und Angebote der öffentlichen Daseinsfürsorge.

Die Organisation Coop 57, die sich einerseits mit der historischen Aufarbeitung der solidarischen Ökonomie in Barcelona beschäftigt und anderseits mit der aktiven Förderung neuer entsprechender Initiativen, spielt eine wichtige Rolle in diesem Kontext. Mit Vertreter*innen von dieser Initiative sprachen wir über die Entwicklung der Genoss*innenschaften sowie Probleme und das Wirken der seit 2015 neu gewählten Bürgermeisterin. Während die Stadt bis zur Wahl Ada Colaus als neue Bürgermeisterin auf öffentlich-private Partner*innenschaftsprojekte mit Großkonzernen setzte, fokussierte die Initiative ihre Arbeit auf die Kooperation mit der Stadtbevölkerung, Genoss*innenschaften und Nachbar*innenschaftsinitiativen.

Einer Studie zufolge existieren im Raum Barcelona über 5000 Unternehmen, die als Genoss*innenschaften, Kooperativen oder kollektiv organsiert sind. Das entspricht einem Anteil von 7 Prozent am BIP der Stadt. Einen Schub gab vor allem die Zeit der Bankenkrise. Die Bürger*innen verlagerten ihr Erspartes von den privaten Banken hin zu Genoss*innenschaftsbanken. Vorrangig handelt es sich daher um genossenschaftlich organisierte Banken sowie Vereine im sozialen Bereich. Zunehmend entwickeln sich aber auch in neuen Wirtschaftsbereichen solche Formen von Unternehmen, bspw. im Transportwesen, in der Telekommunikation und im Energiesektor. Auch im Tourismusbereich zeichnen sich solche Entwicklungen ab. Es wird eine kontroverse Debatte darüber geführt, wie sinnvoll die Gründung von Kooperativen für Migrant*innen ohne Papiere ist. Diese bekommen zwar über Kooperativen überhaupt erst die Möglichkeit, legal einer Tätigkeit nachzugehen, allerdings haben nicht alle den gleichen Zugang, da erst schrittweise eine Öffnung stattfindet. Somit wird befürchtet, dass die Gruppe der Papierlosen gespalten wird. 

Mit Blick auf den aktuellen Konflikt machten die Vertreter*innen noch deutlich, dass im Falle einer Entmachtung der Regionalregierung auch die Finanzierung dieser lokalen Initiativen zur Förderung einer solidarischen Ökonomie auf dem Spiel stehen, da diese Fördermittel von der Regionalregierung erhalten.

 

13.10. Canditatura d´Unitat Popular

Der letzte Termin der Bildungsreise war das Gespräch mit der Mitarbeiterin für Internationales der CUP. Die Mitte der 1980er gegründete Canditatura d´Unitat Popular kurz CUP beschrieb sie uns zunächst eher als eine politische Bewegung als eine typische politische Partei. Die wichtigsten politischen Prinzipien der CUP sind die lokale und munizipalistische Organisation, sie verstehen sich als sozialistische, antikapitalistische, feministische und ökologische Bewegung. Sie sind besonders verwurzelt in Projekten und Gruppen, die gesellschaftlich direkt vor Ort aktiv und den lokalen Lebens- und Alltagszusammenhängen verankert sind. Daher war es auch keine einfache Entscheidung sich auf regionaler Ebene für das regionale Parlament 2015 zur Wahl zu stellen, denn das vorherrschende parlamentarische System entspricht nicht dem Konzept der CUP von gesellschaftlichen Institutionen. Die Idee von Berufspolitiker*innen beispielsweise wird abgelehnt, nach einem strengen Rotationsprinzip gilt für gewählte Abgeordnete, dass sie nur für eine Legislaturperiode amtieren dürfen. Dahinter steht zunächst der Gedanke, dass allen Menschen die Fähigkeit zugesprochen wird, dass sie über gesellschaftliches Zusammenleben verhandeln und andere repräsentieren können. Die Sorge vor der Schwächung der eigenen Standpunkte und Ideale durch eine Professionalisierung ist ein weiterer Grund. Die Möglichkeit eine größere Menge an Menschen zu erreichen und für ihre Sache zu gewinnen, motivierte die Partei dann aber doch an den Regionalparlamentswahlen 2015 teilzunehmen. Sie waren neben Junts pel Si die zweite Partei, die sich für die katalanische Unabhängigkeit in ihrem Wahlprogramm aussprach. Bevorzugen würde die CUP jedoch konsequentere lokale politische Beteiligungsformen für alle Einwohner*innen. Diesen munizipalistischen Ansatz teilen sie mit Barcelona en Comu und sind darüber auch im Austausch.

Auf die Frage, ob die Zeit für eine konsequente Verfolgung der katalanischen Unabhängigkeit nicht verfrüht und die Bewegung noch zu fragil sei, antwortete die Vertreterin der CUP, dass ihre Bündnisse sowie die Bezugspunkte ihrer Analyse über die Regionalparlamentswahlen und die Junts pel Si hinaus gehen. Sie berufen sich auf die breite Mobilisierung und Debatte, die auf den Straßen bereits seit 2012 stattfindet und die nun zu einem besonderen Moment geführt hat, den es zu nutzen gilt. Katalonien ist hierbei zunächst ihr politischer Handlungsraum, innerhalb dem sie eine starke regionale Verankerung haben und in dem sie als Beispiel für ganz Spanien aktiv sind, wohin sie auch gute und langjährige Verbindungen haben. Jedoch können und wollen sie ganz Spanien als politischen Handlungsraum aufgrund der Größe und Differenziertheit nicht wahrnehmen. Dies erläuterte die Vertreterin der CUP auf die Frage hin, wieso sie sich nur auf die katalanische Unabhängigkeit beziehen und ihr antikapitalistisches, sozialistisches Projekt nicht auf ganz Spanien ausweiten wollen.


Verkehr und Mobilität | 23.5.2017

Verkehr und Mobilität in Thüringen - sozial und ökologisch?
Dr. Klaus Sühl, Staatssekretär im Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft, sprach sich in seinem Beitrag für mehr Angebote im ÖPNV aus.

Vom einheitlichen Verkehrsverbund und einem gut ausgebauten Radwegenetz weit entfernt oder: Wo steht Thüringen in der Verkehrspolitik?

Draußen war es schwülwarm, ein Tag, an dem man gern Rad fährt. Doch am späten Nachmittag des 23. Mai versammelten sich im Haus Dacheröden in Erfurt ohnehin Menschen, die oft mit dem Fahrrad unterwegs sind. Hierhin hatten die Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen, die Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen und das Kommunalpolitische Forum Thüringen geladen, um gemeinsam das große Thema „Verkehr und Mobilität in Thüringen – sozial und ökologisch?“ zu diskutieren.

Im Rahmen der Reihe „Rot-Rot-Grüne Projekte in Thüringen“ wolle man eine Zwischenbilanz ziehen, eröffnete Marco Schrul, Geschäftsführer der Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen, die Veranstaltung, und fügte hinzu: „Verkehr ist ein Thema, das wir für zentral halten. Es ist einer der Schlüsselbereiche im Bereich Klimaschutz.“

So lautete der Titel der Keynote von Prof. Dr. Matthias Gather (Professur Verkehrspolitik und Raumplanung an der Fachhochschule Erfurt) „Verkehrspolitik in den Ländern – wo machen Rot und Grün den Unterschied?“. Um es kurz zu machen: Da gebe es kaum signifikante Unterschiede, erklärte Prof. Gather. Das liege zum einen daran, dass eine echte politische Lagerbildung in den Bundesländern kaum vorhanden sei, denn „wir haben es häufig mit Koalitionen zu tun“. Zum anderen sei der Spielraum der Länder im Bereich Verkehrspolitik recht eng, da könne man zwar den ÖPNV fördern, sei zuständig für die Umweltüberwachung und die Landstraßen und könne Anreizsysteme für Kommunen setzen, aber, so Gather: „So richtig sexy ist das nicht, um sich zu profilieren“. Was bleibt also? Prof. Gather: „Distinktionsmerkmale  sind Klimaschutz und die Förderung des Fußverkehrs (= grüne Themen) sowie smart mobility (= schwarzes Thema)“. Spezielle rote Themen seien ggf. die Bezahlbarkeit des ÖPNV (= Aufgabe der Kommunen) sowie die Ablehnung der Privatisierung (=Aufgabe des Bundes). Immerhin: „Forderungen des Landes an den Bund und die Mitwirkung im Bund sind nicht nur wohlfeil, sondern auch wahrnehmbar und bisweilen effektiv.“ Und, nicht zu unterschätzen: Zu den wesentlichen Handlungsfeldern der Landesverkehrspolitik gehöre die Förderung des Radverkehrs.

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Dem Referat schlossen sich verschiedene Workshops an. Hier gab es angeregte Diskussionen zu den Themen „Mobilität im ländlichen Raum zukunftssicher gestalten“, „Elektrisch, autonom und geteilt – Wie sieht die Zukunft des Autos aus?“, „Nachhaltige Mobilität in der Stadt sozial gerecht gestalten“ und „Bahn 2.0 – Wie sieht die Zukunft der Schiene aus?“.

Interessanterweise wurden bestimmte Themen in allen Workshops aufgegriffen: die Stärke und die Vernetzung des ÖPNV in Thüringen, die Weiterentwicklung der Verkehrsverbunde und  die Einführung des Bürgertickets.

Dazu hatte auch Dr. Klaus Sühl, Staatssekretär im Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft, in seinem Beitrag „Rot-Rot-Grüne Verkehrspolitik in Thüringen – Zwischenbilanz und Ausblick“ einiges zu sagen: „Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, die Angebote des ÖPNV anzuheben. Wir geben etwa 400 Millionen Euro pro Jahr für den ÖPNV aus. Das zeigt, wie wichtig uns der ÖPNV ist.“ Aber da gäbe es ein großes Problem: „Wir haben circa vierzig Verkehrsunternehmen in den Kreisen. Mit denen müssen wir verhandeln, wie denn ein thüringenweiter Verkehrsverbund auf den Weg gebracht werden kann. Da stoßen wir auf die Egoismen der Landkreise und noch mehr auf Egoismen der Verkehrsunternehmen“.  „Was spricht dagegen, das Gesetz so zu ändern, dass wir mehr Vertaktung im ÖPNV hinkriegen?“, wollte Jennifer Schubert vom Verkehrsclub Deutschland, die an diesem Abend moderierte, wissen. Dr. Sühl: „Wir glauben, es ist nicht unvernünftig, die Verantwortung des ÖPNV bei den Kommunen zu belassen. Die Idee, das in Landeshand zu geben, halte ich für keine gute Idee.“

Leider sind die vielen Verkehrsunternehmen auch der Knackpunkt beim geplanten Azubi-Ticket. Doch hier ist Klaus Sühl optimistisch: „Das sind Überzeugungsarbeiten, das werden wir hinkriegen. Ich bin mir sicher, dass wir für nächstes Jahr ein Azubiticket und ein kostenfreies Ticket für alle SchülerInnen hinkriegen.“  Nicht ganz so zuversichtlich war Dr. Gudrun Lukin (MdL, Die Linke): „Die Frage nach einem einheitlichen Sozialticket ist an den Verkehrsunternehmen gescheitert. Und das Thema Azubiticket wird an uns klebenbleiben. Vielleicht hat die bevorstehende Gebietsreform einen guten Einfluss.“

Und was ist mit den versprochenen Radwegen? Dr. Klaus Sühl: „Wir hatten 25 Jahre fast durchgängig CDU, da lag das Prä fast ausschließlich auf dem Autoverkehr. Verkehrspolitik ist keine Politik, die man in einem Jahr oder in einer Legislaturperiode macht.“ So gebe es keine Pläne für den Fahrradwegebau von der Vorgängerregierung. Das sei ein echtes Problem, werde doch die Verkehrswegeplanung auf 15 Jahre erstellt und brauche zehn Jahre Vorlauf.

Die anschließende Diskussion widmete sich erneut dem Thema „einheitlicher Verkehrsverbund in Thüringen“. Prof. Matthias Gather antwortete auf Jennifer Schuberts Frage, was seine Prognose für Thüringen sei: „In Thüringen wedelt der Schwanz mit dem Hund. Die lokalen Verkehrsunternehmen haben einen erheblichen Einfluss auf die Verkehrspolitik. Das kann gut sein, man muss sich dessen aber bewusst sein. Auch die neuen Landkreise sind zu klein und müssen sich wieder zusammenlegen.“

Hier meldete sich die Landrätin des Altenburger Landes, Michaele Sojka, zu Wort: „Man sollte gute Beispiele nutzen. Ich lade euch alle ein nach Altenburg.“ Denn Altenburg gehöre dem gut ausgebauten MDV (Mitteldeutscher Verkehrsverbund GmbH) an und sei, so Sojka, „der einzige Landkreis mit fünf S-Bahn-Stationen“ und offen für weitere Landkreise. „Wenn die Gebietsreform durch ist, dann werden wir die anderen einsammeln“, meinte Michaele Sojka zuversichtlich.

Dr. Sühl erwiderte: „Wenn wir was erreichen wollen, müssen wir die Leute mitnehmen“ und appellierte: „Wir brauchen Partner. Die größte Partnerschaft, die Sie sich denken können, sind volle Züge, Busse und Straßenbahnen. Die größte Werbung für noch mehr ÖPNV ist eine stärkere Nutzung des ÖPNV. “

Dass es allmähliche Veränderungen in der Verkehrspolitik geben wird, darüber waren sich an diesem Abend alle einig. Olaf Müller (MdL, Bündnis 90/Die Grünen): „Wir werden hier sukzessive einen Wandel erleben. Man wird auch im Bereich Klimaschutz stückchenweise vorankommen.“ Und Dr. Klaus Sühl betonte zum Schluss: „Wir sind repräsentativ für die Mehrheit der ThüringerInnen. Glauben Sie nicht, dass wir so mächtig sind. Wenn wir was verändern wollen braucht es einen langen Atem und starke außerparlamentarische Unterstützung.“

Carmen Fiedler


Teilhabe statt Armut | 10.5.2017

Fachforum zur Armutsprävention in Thüringen

Wie weit ist Thüringen unter Rot-Rot-Grün mit dem großen Thema Armutsprävention gekommen? Wird der Aufruf «Teilhabe statt Armut!« politisch umgesetzt? Ein gemeinsames Fachforum der Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen, das im Rahmen der Reihe «Rot-rot-grüne Projekte in Thüringen: Zwischenbilanz und Perspektiven» am 10. Mai in Erfurt sollte klären, wie weit man gekommen ist auf dem im Koalitionsvertrag vereinbarten Weg und was noch zu tun bleibt. Nicht zuletzt sollte die Veranstaltung dazu beitragen, Menschen verschiedenster Professionen zu vernetzen.

Zum Auftakt der Veranstaltung formulierte die Thüringer Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie, Heike Werner, Thesen zum Thema «Armutsprävention in Thüringen als politischer Auftrag». Armut sei ein Problem, 18,9 % der Menschen in Thüringen seien von Armut bedroht. Da müsse man hinschauen, das dürfe man nicht relativieren und auch nicht lediglich quantitativ betrachten, konstatierte sie und stellte klar: «Politik muss auch handeln!» Dieser Auftrag erwachse aus dem Recht des Einzelnen auf ein würdevolles Leben und der Aufgabe des Staates, Diskriminierungen vorzubeugen und Teilhabe für alle zu ermöglichen. Außerdem sei Armutsprävention eine Frage des sozialen Friedens. «Daran hängt auch die Perspektive und Zukunft eines Landes», so Heike Werner und erwähnte als Stichworte «vererbte Armut» und «regionale Ungleichheiten». Die politischen Handlungsfelder seien vielfältig und reichten vom Einsatz auf Bundesebene für Verteilungsgerechtigkeit und eine neue Steuerpolitik über die Bekämpfung prekärer Arbeitsverhältnisse (Minijobs, Leiharbeit) und damit verbundener Einkommens- und Rentenarmut bis hin zu den Debatten um Regelsätze und Sanktionen bei Hartz IV und eine soziale Mietpolitik. Die Entlohnung von Frauen sei ein wichtiger Punkt. Werner: «Armut hat auch ein weibliches Gesicht».

Bei alldem seien dem politischen Handeln auch immer gewisse Grenzen gesetzt, zum Beispiel durch die Tarifautonomie. Werner betonte, dass der Zugang zu Erwerbsarbeit kein Allheilmittel gegen Armut sei. Ebenso bedeutsam sei soziale Integration der Menschen, die Ermöglichung von Teilhabe in allen Lebensbereichen - von der medizinischen Versorgung über die Mobilität bis hin zum Wohnen. Man müsse ganz konkret auf Zielgruppen schauen: auf Frauen, Alleinerziehende oder Flüchtlinge beispielsweise. Und: «Kinder brauchen rechtzeitig entsprechende Unterstützungsmaßnahmen.» Schließlich schloss Heike Werner mit dem Fazit: «Vor Ort kennt man den Bedarf am besten. Wir brauchen Förderprogramme vor Ort, die auf einer genauen Analyse der Lebenslagen der betroffenen Menschen gründen.»
 

Volltext des Berichtes

Studie «Kinderarmut und Reichtum in Deutschland» (2017) von Michael Klundt

Beitrag «Wege aus der Armut» von Ronald Lutz

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Regional und ökologisch | 14.9.2016

Ernährungs- und Landwirtschaftspolitik in Thüringen: Vom Dialog zu konkreten Ergebnissen.

Fishbowl-Diskussion, u.a. mit Birgit Keller, Anja Siegesmund, Petra Müller (Verbraucherzentrale ), Reiko Wöllert (AbL) und Robert Scheringer (Agrarprodukte Großfahner eG). Moderation: Stefanie Geressen

„Quicklebendige Diskussion“ – so lautete das Fazit im „Freien Wort“ über die Fishbowl-Diskussion mit den Ministerinnen Birgit Keller (Die LINKE) und Anja Siegesmund (Bündnis 90/Die Grünen). Zu einer Diskussion über die Zwischenbilanz der rot-rot-grünen Regierung im Bereich Ernährung und Landwirtschaft hatten die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen eingeladen.
„Ich bin die Ministerin von 95% konventionellen und 5% Bio-Landwirten“, stellte Birgit Keller zunächst einmal fest. Und fuhr fort: „Die Landwirtschaft in Thüringen sichert 25.000 Arbeitsplätze. Oft ist sie auf dem Land auch der einzige Arbeitgeber.“ Und, so Keller weiter: „Ich kenne keinen Landwirt, der am Morgen in den Spiegel schaut und überlegt: Welches Tier quäle ich heute? Und welches Gift kann ich heute versprühen?“ Trotzdem, so Keller, können sie natürlich die Sorgen der Verbraucherinnen verstehen. Daher arbeite man im Ministerium an der Verbesserung des Siegels „Geprüfte Qualität aus Thüringen“. Zudem möchte Keller auch den Öko-Landbau stärken. „Ich will, dass Bio-Lebensmittel in Thüringen hergestellt werden. Das ist ein großes Potential für unsere Landwirte“. Ob das im Koalitionsvertrag festgeschriebene Ziel, im Jahr 2020 zehn Prozent der Anbaufläche ökologisch zu bewirtschaften, erreichbar ist, lies sie dabei offen. „In den letzten Jahren ist das Vertrauen in die politisch gesetzten Rahmenbedingungen für den Öko-Landbau verloren gegangen.“ Dieses Vertrauen, so Keller, müsse man nun erst einmal wieder herstellen. Helfen soll dabei ein Ende 2015 verabschiedeter „Ökoaktionsplan“ des Ministeriums.

Umweltministerin Anja Siegesmund stellte zunächst heraus, dass die hohe „Ernährungssicherheit in Deutschland global gesehen ein Privileg ist.“ Und das, so Siegesmund, „verdanken wir unserer Landwirtschaft“. Trotzdem gingen in Deutschland die Stickstoffemissionen kontinuierlich zurück, mit einer Ausnahme: Der Landwirtschaft. Diese sind etwa für 95% der Ammoniak-Emissionen verantwortlich. Konflikte mit der Landwirtschaft gäbe es auch beim Gewässerschutz. Aber: Man habe viel dafür getan, dass im Zuge der Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetz die Zukunft der Landwirte, die im Bereich Bioenergie tätig sind, gesichert wird. Grundsätzlich, so die Ministerin, sei sie zudem dafür, alte ideologische Gräben zu verlassen. Mit den alten Strukturen käme man nicht weiter. Man müsse sich zusammensetzen und
schauen, wie man „mit visionären Ideen aus der Krise der Landwirtschaft“ komme. Und dürfe gleichzeitig nicht vergessen, dass Landwirtschaftspolitik immer auch Europapolitik sei.

Robert Scheringer, Vorstand der Agrarprodukte Großfahner eG, zeigte sich dagegen zunächst skeptisch, dass es gelingt, den Ökolandbau in Thüringen auszubauen. Der Bereich der Öko- Lebensmittel sei stark unter Druck, weil global erzeugte Öko-Lebensmittel in den Markt drücken. Dem hielt Petra Müller von der Verbraucherzentrale Thüringen entgegen: Viele Verbraucherinnen wollen Bio-Lebensmittel aus der Region und fragen nach, warum es diese nicht gibt. Dies bestätigte auch Reiko Wöllert, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft (ABL) Mitteldeutschland: Man habe bei vielen ökologisch erzeugten Produkten „eine Nachfrage ohne Ende“. Und der „Preis spiele in der Direktvermarktung kaum eine Rolle“: die Verbraucherinnen seien gerade in der Direktvermarktung bereit, mehr zu zahlen. Trotzdem stehe das Agrarsystem „kurz vor dem Kollaps“ aufgrund der sinkenden Preise, die im Handel erzielt werden. Grund für diesen Kollaps, so Wöllert, ist die Orientierung der konventionellen Landwirtschaft und des Handels auf den Weltmarkt und die damit verbundene Import- und Exportabhängigkeit. Wöllert forderte, kleinere und mittlere Betriebe mehr zu fördern. In dieser Forderung unterstützte ihn Michael Grolm, Imker aus Tonndorf: „Größere Betriebe sind weniger wirtschaftlich und schaffen weniger Arbeitsplätze, greifen aber die meisten Fördermittel ab.“ Ein Ergebnis der Förderpolitik sei es, dass für kleinere und mittlere Betriebe keine Anbauflächen mehr verfügbar sind. Grolm forderte, dass Thüringen ähnlich wie Niedersachsen ein „Gesetz zur Sicherung der bäuerlichen Agrarstruktur“ auf den Weg bringe. Mit einer Reform des Grundstücksverkehrsrechts will Niedersachsen den Preisanstieg bei landwirtschaftlichen Flächen abbremsen und ortsansässigen Bauern ein wirksames Vorkaufsrecht einräumen. Ministerin Keller, die von Grolm mehrfach darauf angesprochen wurde, wollte sich darauf aber nicht verpflichten lassen. Gleiches galt für die von Grolm erhobene Forderung, die Auszahlung von Fördermitteln künftig stärker an die Zahl der Arbeitsplätze als nur an die Hektar der bewirtschafteten Flächen zu binden.
Die Zuhörer der Fishbowl-Diskussion ließen sich davon nicht entmutigen und wechselten fleißig in den inneren Kreis mit den Ministerinnen, um an der Diskussion teilzunehmen. Die Themenvielfalt war groß: von der Frage nach dem Schulessen über den Filtererlass und den Glyphosat-Einsatz bis zurück zur Umwandlung der LPG in Agrargenossenschaften und die aktuelle Umwandlung in GmbHs und den damit verbundenen Einkauf von Kapitaleignern.

Vergleichsweise einig wurde sich die Runde dann noch einmal beim Thema „Tierwohl“. So sagte Robert Scheringer von der Agrarprodukte Großfahner,
dass aus seiner Sicht nicht die Betriebsgrößen, sondern vor allem Kühe, die eine Leistung von jährlich bis zu 14.000 l Milch hätten, das eigentliche Problem seien. „Ich mache dieses Spiel nicht mehr mit und habe meine Kuh-Herde verkleinert, sagte Scheringer. Er plädierte zudem dafür, die Landwirte in Thüringen nicht auseinanderzudividieren. „Wir müssen gemeinsam schauen, wie wir die Landwirtschaft in Thüringen voranbringen.“ Damit stieß er bei Reiko Wöllert von der AbL auf offene Ohren. Dieser stellte fest, dass der Dialog zwischen der Arbeitsgemeinschaft und den Verantwortlichen unter Rot-rot-grün besser und kontinuierlicher geworden sei. „Aber an konkreten Ergebnissen müssen wir noch arbeiten.“

Autor: Marco Schrul (HBS Thüringen, Quelle)

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Eine Schule für alle | 29.8.2016

Ergebnisse des Fachforums „Eine Schule für alle. Thüringer Schulen auf dem Weg zur Inklusion“ am 29.08.2016 in Erfurt.

Das Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport legte zu Beginn 2016 Eckpunkte eines inklusiven Schulgesetzes für Thüringen vor, das das bisherige Thüringer Schulgesetz und das Förderschul-gesetz zusammenführen soll. Geplant ist, dass das Gesetz ab dem Schuljahr 2018/2019 für etwa 230.000 Schülerinnen und Schüler und deren 20.000 Lehrerinnen und Lehrer an über 1.000 Thüringer Schulen den Gemeinsamen Unterricht organisieren hilft. 

Dieses Projekt gleicht einer Großbaustelle. Sein Erfolg hängt entscheidend von der Planung ab und vom Fundament, auf dem es gebaut ist. Was können alle Projektbeteiligten schon jetzt an Ressourcen einbringen können und welche Neuinvestitionen sind nötig? Wo ist die stabile Basis, von welcher die Eckpunkte des Gesetzes wie Stützpfeiler getragen werden? Wird an eine externe „Bauberatung“ gedacht, wenn der Prozess sich schwierig gestaltet? 

Die von Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen und Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen organisierte Veran-staltung bot allen an Schule und Bildung Interessierten sowie ehren- und hauptamtlich Verantwortlichen an, sich über diese Fragen auszutauschen. Nahezu einhundert Pädagoginnen und Pädagogen, Vertreter*innen von Verbänden und Interessierte machten von diesem Angebot Gebrauch und diskutierten im Erfurter Haus Dacheröden über die Ansprüche und Gelingensbedingungen einer gemeinsamen Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung. 

Volltext des Berichtes

Artikel der UNZ

Fotos: Mona Walter

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Krieg – eine archäologische Spurensuche | 2.4.2016

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen hatte für Samstag, den 2. April 2016 eine Exkursion nach Halle in die Ausstellung „Krieg - eine archäologische Spurensuche“ organisiert. Dort erhielten wir eine Führung durch diese Sonderausstellung.

Im Zentrum der internationalen Ausstellung steht das Massengrab aus der Schlacht von Lützen.

47 Tote in einem Massengrab – das sind die einzigen Opfer, die bisher von einer der bedeutendsten und verlustreichsten Schlachten des 30jährigen Krieges gefunden werden konnten. Sie gehören zu den 6 500 Gefallenen, die im November 1632 in Lützen bei Leipzig ihr Leben ließen – wie auch der schwedische König Gustav II. Adolf, die Lichtgestalt des Protestantismus. Die erste Hälfte der Sonderausstellung widmet sich ihren Geschichten, aufgedeckt durch neueste archäologische Forschung.

Als tonnenschwerer Erdblock steht das Grab als ausdruckstarkes Antikriegsmonument im Lichthof des Landesmuseums. Dieser einzigartige Fund und modernste Untersuchungstechniken boten die Chance, jedem der namenlosen Toten wieder ein Gesicht und eine Identität zu geben.

Auch mit dem schwedischen König Gustav II. Adolf und dem kaiserlichen General Albrecht von Wallenstein, den beiden fähigsten Heerführern ihrer Zeit, die sich in der Schlacht gegenüber standen, beschäftigt sich die Ausstellung.

In einem zweiten Teil der Ausstellung wird mit archäologischen Methoden den Ursprüngen des Phänomens Krieg nachgegangen.

Spuren an menschlichen Skeletten altsteinzeitlicher Jäger und Sammler scheinen zu belegen, dass Aggression und Gewalt Teil unseres Wesens ist. Von kriegerischen Auseinandersetzungen kann man wohl erst ab der Jungsteinzeit sprechen, in der die Menschen als Ackerbauern sesshaft wurden und Grenzen und Eigentum hatten.

Im Laufe der folgenden Jahrtausende bildete sich schließlich ein eigener Stand von Kriegern heraus. Sie verfügten über ein besonderes Selbstverständnis und zeichneten sich durch eine spezialisierte Bewaffnung aus. Auch Kriegstechnik, Strategie und Taktik entwickelten sich stetig weiter, während das Leid der Menschen im Krieg zeitlos bleibt.

Als Besucher*in kann man sich dem Sog der Bilder, der Kriegsgegenstände kaum entziehen. Präsentiert werden etwa 900 Exponate aus 60 europäischen Museen und Sammlungen. Die Ausstellung zeigt, das Archäologie nichts Verstaubtes, sondern hochaktuell ist. Und sie liefert einen bedrückenden Einblick in unsere Zivilisation.

Neben der Erforschung des Phänomens „Krieg“ zeigt die Ausstellung aber auch, dass es die Option auf Frieden gibt, z.B. der Westfälische Frieden vom Dreißigjährigen Krieg oder der historisch, älteste und berühmteste Friedensvertrag der Welt von Kadesh (1259 v. Chr.).

Die Zeit der Führung durch die Sonderausstellung verging wie im Flug. Einige Teilnehmer*innen unserer Exkursion fassten den Entschluss, die Ausstellung nochmal individuell zu besuchen, um sich dem Thema noch intensiver zu beschäftigen.

Beim gemeinsamen Mittagessen diskutierten wir noch weiter, warum die Menschheit nicht lernt und immer weiter Krieg führt, Leiden produziert, die Millionen Menschen zur Flucht treibt.

Nach einem informativen Tag fuhren wir nach Erfurt zurück.


Grenzen öffnen für Menschen – Grenzen schließen für Waffen | 9./10./11.2.2016

Zu diesem Thema hatten wir Jürgen Grässlin, den bekanntesten deutschen Rüstungsgegner, nach Thüringen eingeladen. Die Veranstaltungen fanden am 09.02.16 in Erfurt, am 10.02. in Jena und am 11.02. in Suhl statt.

Jeweils zu Beginn der Veranstaltungen stellte sich die Initiative zur Schaffung eines Rüstungskonversationsfonds in Thüringen kurz vor.

Jürgen Grässlin ging in seinem Vortrag darauf ein, welche deutschen Waffen auf welchem Weg – legal wie illegal – in Krisen- und Kriegsgebiete in Asien, Afrika und Lateinamerika gelangen. Er machte deutlich, dass der Einsatz dieser Kriegswaffen zu Menschenrechtsverletzungen in den Empfängerländern beiträgt und somit die Flucht von Millionen Menschen fördert. Außerdem zeigte er auf, welche Unternehmen an diesem skrupellosen Geschäft mit dem Tod verdienen, und informierte die Besucher*innen über seine Klagen gegen das Unternehmen Heckler & Koch, über die Untätigkeit der Stuttgarter Justiz und die kriminellen Verflechtungen von Waffenindustrie und Behörden. In Jena sprach er das Unternehmen Jenoptik AG an, wo einerseits medizintechnische Produkte zum Wohl der Menschen und gleichzeitig Militärtechnik zum Kriegseinsatz entwickelt werden.

In den anschließenden Diskussionen tauchte immer wieder die Frage auf, was der/die Einzelne tun kann. Jürgen Grässlin ermutigte Initiativen wie die zur Schaffung eines Rüstungskonversionsfonds in Thüringen. Er berichtete auch über seine Arbeit beim „Dachverband Kritischer Aktionär*innen Daimler“ und lud die Zuhörenden ein, sich daran zu beteiligen.

In der Diskussion entwickelten sich auch weitere Ideen: Eine Podiumsdiskussion zwischen Jürgen Grässlin und Bodo Ramelow wurde angeregt, um auszuloten, welche Möglichkeiten die rot-rot-grüne Regierung in Thüringen hat, um ernsthafte Schritte hin zu einer Rüstungskonversion zu gehen. In Suhl kam die Idee einer Volksbefragung auf, in der die Bürgerinnen und Bürger der Stadt darüber entscheiden sollten, mit welchem Selbstbild künftig Stadtmarketing betrieben werden soll: „Waffenstadt Suhl“ oder „Suhl - Stadt des Friedens“?



Fahrt in das Kali-Bergbau-Museum Bischofferode | 12.12.2015

Exkursionsbericht

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen hatte für Samstag, den 12. Dezember 2015, eine Exkursion nach Bischofferode organisiert.
Der Ort und seine Bergarbeiter sind berühmt geworden wegen ihres heftigen Widerstands gegen die von der Treuhand beschlossene Schließung ihres Bergwerks im Jahr 1993.
Der heute 62-jährige Bergmann Gerhard Jüttemann, ehemaliger Betriebsrat und Gewerkschafter, dem im Jahr 1993 die Rolle des Arbeiterführers zufiel, gab uns bereits bei der Begrüßung einen kurzen Überblick zur traurigen Berühmtheit des Ortes in den 1990er Jahren.

Nach dem Mittagessen besichtigten wir mit ihm und Herrn Nebel, einem weiteren ehemaligen Bergmann, in zwei Gruppen das Kali-Bergbau-Museum in Bischofferode.
Im Anschluss an den verzweifelten Kampfes der Kalikumpel um den Erhalt des Bergbaustandortes Bischofferode im Jahr 1993 wurde der Thomas-Müntzer-Kaliverein Bischofferode e.V. gegründet, und es entstand der Gedanke, ein Bergbaumuseum aufzubauen. Dazu erwarb der Verein das Gebäude, das einst die Betriebs-Ambulanz des Bergwerks beherbergte. Das Museum erinnert nicht nur an das ereignisreiche Jahr 1993, sondern zeichnet auch die Geschichte des Kalibergbaus in der Region seit 1909 nach.
Mit großer Unterstützung des Bergwerkes Bischofferode sowie Unternehmen vor Ort und der Region entstand in den Jahren 1996 bis 1999 das Museum. In zwei Etagen - fast so wie im Bergwerk selbst über Tage/unter Tage - konnten wir uns mit dem Kalibergbau vertraut machen.
Auch dem damaligen möglichen Investor Johannes Peine, Chef einer westfälischen Firmengruppe, der vergeblich versucht hatte, durch eigene Investitionen in Höhe von 59 Millionen D-Mark den Industriestandort zu retten,ist ein Raum im Museum gewidmet.

Nach einer Pause mit Kaffee und Kuchen folgte in den Räumen des Museums die Lesung mit Volker Braun aus seinem Buch „Die hellen Haufen“.
Er schildert in seinem Buch, wie die Kumpel im Kalibergwerk Bischofferode im Stich gelassen wurden, und entwirft die Fiktion eines Aufstands. Er hinterfragt das Scheitern des Protestes der Bergleute. In seiner Erzählung malt er sich aus, dass diejenigen, die von der Wende überrollt wurden, sich zusammentun, um gemeinsam den Aufstand zu wagen.
Dabei zieht er Parallelen zum Bauernkrieg 1524/25. Eine seiner Hauptsequenzen sind die „12 Mansfelder Artikel“, in welcher die rebellierenden Bergleute ihre Forderungen zusammenfassen. Doch es bleibt beim Versuch des großen Aufstands. Am Ende scheitert dieser durch an der eigenen Zögerlichkeit und der Brutalität der Ordnung.

Im Anschluss an die Lesung sahen wir noch den MDR-Dokumentarfilm „Der Kali-Krimi“, der in der Reihe „Umschau extra“ am 29.09.2015 erstausgestrahlt wurde. Der Filmautor Dirk Schneider hatte sich auf Spurensuche begeben, und seine Recherchen zeichnen einen Wirtschaftskrimi nach. 20 Jahre nach dem Hungerstreik werden die Zusatzprotokolle der spektakulären Übernahme der ostdeutschen Kaliindustrie durch den Kasseler Weltkonzern K + S öffentlich. Sie zeigen: Die Kumpel von Bischofferode hatten gegen die Mächtigen keine Chance.

Nach einem informativen Tag fuhren wir mit dem Bus gegen 17:30 Uhr nach Erfurt zurück.


5. Kommunalpolitischer Brückenschlag Hessen-Thüringen

Mittendrin oder an den Rand gedrängt? Dies war die Fragestellung beim kommunalpolitischen Brückenschlag Hessen-Thüringen am 19. September 2015 im Frankfurter Römer, bei der Fraktion DIE LINKE. Dabei ging es in den Diskussionen darum, wie es Senior*innen in der Kommune geht, welche Möglichkeiten der gesellschaftlichen Partizipation sie haben und was sie daran gegebenenfalls hindert.
Der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtverbandes Thüringen, Reinhard Müller, gab ein Impulsreferat über die Altersarmut in Deutschland und Thüringen und ihre Folgen.
Bedroht von der Altersarmut sind vor allem ehemals Langzeit- und Mehrfacharbeitslose, deren gebrochene Erwerbsbiografien sich dann in geringen Renten niederschlagen.
Fast 400 000 Thüringer sind von Armut betroffen. Nach einer neuen Berechnung des PARITÄTISCHEN beträgt die Armutsquote in Thüringen 18 Prozent.
Herr Müller sprach von einer vollständigen Entkopplung von wirtschaftlicher Entwicklung und Armutsentwicklung. Wirtschaftswachstum und die insgesamt positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in Thüringen führten nicht zu einer Verringerung des Armutsrisikos.
Sorgen bereite die Entwicklung bei Rentnerinnen und Rentnern. Noch ist deren Armutsquote mit 15,2 Prozent bundesweit vergleichsweise moderat. Allerdings verbirgt sich dahinter ein extremer Anstieg der Armut seit 2006. Reinhard Müller sprach sich für entschlossene Reformen der Bundesregierung aus, um die auf uns zurollende Welle der Altersarmut aufzuhalten.
Dem folgte eine interessante Diskussion unter den Teilnehmer*innen.

Nach dem Mittagessen im Stadtzentrum ging die Veranstaltung mit dem Vortrag von Dr. Sven Stadtmüller, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungszentrums Demografischer Wandel (FZDW) der Frankfurt University of Applied Schiences weiter.
Herr Stadtmüller zeigte auf, dass der demografische Alterungsprozess, der in den nächsten Jahren durch den Übertritt der geburtenstarken Jahrgänge in die Lebensphase Alter an Fahrt aufnimmt, nicht in einer strukturellen Mehrheit für die Unionsparteien münden wird. Vielmehr kennzeichnet die Babyboomer-Generation der Alt-BRD (1955-1959) eine starke Distanz zu den beiden großen Volksparteien und eine relative Nähe zu den Grünen.
Allgemein lassen die geringe Bindungskraft der großen Volksparteien sowie der hohe Anteil
an parteilich Ungebundenen in den geburtenstarken Jahrgängen erwarten, dass sich Wahlergebnisse im Zuge des demografischen Wandels als (noch) beweglicher erweisen und kurzfristige Faktoren bei der Wahlentscheidung eine bedeutendere Rolle spielen.
Im Anschluss diskutierten wir, wie es gelingen könne, Menschen an Parteien zu interessieren.
Viele Anwesende widersprachen Herrn Stadtmüller in seiner These, wonach nicht zwangsläufig rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien Zuwächse verzeichnen könnten. Herr Stadtmüller aber meinte, dass die geburtenstarken Jahrgänge ein insgesamt hoher Bildungsgrad kennzeichnet, der die Anfälligkeit gegenüber rechtsextremem Gedankengut reduziert.

Im letzten Vortrag des Tages informierte Frau Franca Schirrmacher, Mitarbeiterin des Mehrgenerationenhauses Frankfurt-Gallus, über das Aktionsprogramm Mehrgenerationenhäuser II des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die derzeit rund 450 Häuser bundesweit erhielten über einen Zeitraum von drei Jahren (2012-2014) einen jährlichen Zuschuss in Höhe von 40.000 Euro. Davon wurden 30.000 Euro aus Mitteln des Bundes und des Europäischen Sozialfonds (ESF) finanziert. Bei unveränderter Gesamtfördersumme übernimmt der Bund im Jahr 2015 30.000 Euro pro Mehrgenerationenhaus. 10.000 Euro müssen in 2015 von der jeweiligen Standortkommune bzw. vom Land oder Landkreis übernommen werden.
Mehrgenerationenhäuser sind zentrale Begegnungsorte, an denen das Miteinander der Generationen aktiv gelebt wird. Sie bieten Raum für gemeinsame Aktivitäten und schaffen ein neues nachbarschaftliches Miteinander in der Kommune. Der generationenübergreifende Ansatz gibt den Mehrgenerationenhäusern ihren Namen und ist Alleinstellungsmerkmal jedes einzelnen Hauses: Jüngere helfen Älteren und umgekehrt. Das Zusammenspiel der Generationen bewahrt Alltagskompetenzen sowie Erfahrungswissen, fördert die Integration und stärkt den Zusammenhalt zwischen den Menschen.
Mehrgenerationenhäuser stehen allen Menschen vor Ort – unabhängig von Alter oder Herkunft – offen; egal, wie alt oder jung sie sind Jede und Jeder ist willkommen. Der „Offene Treff", z.B. als Bistro oder Café, ist Mittelpunkt jedes Hauses. Hier begegnen sich Menschen, kommen miteinander ins Gespräch und knüpfen erste Kontakte. Für viele Besucherinnen und Besucher der Mehrgenerationenhäuser ist der Offene Treff die erste Anlaufstelle und Ausgangspunkt für weitere Aktivitäten.
In das Mehrgenerationenhaus bringen sich Menschen jeden Alters mit unterschiedlicher Herkunft oder kulturellem Hintergrund aktiv ein. Interessierte können aber auch konkrete Angebote und Dienstleistungen der Häuser in Anspruch nehmen. Dazu gehören Lern- und Kreativangebote für Kinder und Jugendliche, Weiterbildungskurse für den (Wieder-) Einstieg in den Beruf, Betreuungs- und Unterstützungsangebote für pflegebedürftige oder demenziell erkrankte Menschen
Frau Schirrmacher berichtet dann von den verschiedensten Angeboten des Mehrgenerationenhauses Frankfurt-Gallus und von den Veränderungen im Stadtteil. Schwerpunkt ihres Vortrages waren die Angebote und Aktivitäten rund um alltägliche und bildungsrelevante Themen an die ältere Generation, einschließlich der ausländischen Mitbürger*innen.  

Die Kurzfassungen der drei Impulsreferate:

Altersarmut, Demografischer Wandel, Mehrgenerationenhäuser


„80 Jahre Nürnberger Rassegesetze – Geburtsstunde des gesetzlich verordneten Antisemitismus“

Ein Exkursionsbericht

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen und ihre bayerische Bruderorganisation, der Kurt-Eisner-Verein, hatten für Samstag, den 4. Juli 2015, eine Exkursion nach Nürnberg/Fürth organisiert, die sich mit den 1935 in Nürnberg beschlossenen sogenannten „Rassegesetzen“ beschäftigte.

Insgesamt 19 Thüringer_innen (aus Gera, Jena, Erfurt und Bad Salzungen) machten sich am bislang heißesten Tag des Jahres per Bus auf den Weg nach Franken.

In Nürnberg wurden wir von Niklas Haupt vom Kurt-Eisner-Verein und von Siegfried Imholz, der sich bestens mit der Geschichte von Faschismus und Widerstand in der Region auskennt, begrüßt. Niklas hatte im Vorfeld das Programm zusammengestellt, Siegfried stand uns den ganzen Tag mit seinem historischen Wissen zur Verfügung. Auch zwei weitere Menschen aus dem Umfeld des Kurt-Eisner-Vereins und der LINKEN in Nürnberg/Fürth schlossen sich uns an.

Nach dem Mittagessen in der Gaststätte „Gutmann am Dutzendteich“ besuchten wir das in unmittelbarer Nähe gelegene Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Dort hatten wir anderthalb Stunden Zeit für den Rundgang durch die Die Dauerausstellung "Faszination und Gewalt", die sich mit den Ursachen, Zusammenhängen und Folgen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft befasst. Im Mittelpunkt steht die Geschichte der Reichsparteitage, die als gewaltige Massenveranstaltungen von der NS-Propaganda zur Inszenierung der "Volksgemeinschaft" genutzt wurden. Die Zeit für den Rundgang war für einen ersten Einblick in die Vorgeschichte der „Arisierung“ ausreichend – diesem Zweck sollte der Besuch der Ausstellung ja auch dienen - für eine intensive Befassung jedoch natürlich knapp bemessen.

Auf der Weiterfahrt nach Fürth machte der Bus einen Zwischenstopp am jetzigen Sitz der AOK-Direktion Mittelfranken am Frauentorgraben 49 in Nürnberg. Siegfried Imholz erläuterte uns, dass zwischen 1905 und 1945 hier das Gesellschaftshaus des Industrie- und Kulturvereins, einer der prächtigsten Jugendstilbauten der Stadt, stand. Der Saalbau, in den ersten 30 Jahren seines Bestehens wichtiger Veranstaltungsort der Stadt, war im September 1935 Schauplatz eines Ereignisses, das weit über die Stadtgrenzen hinaus Bedeutung erlangen sollte. Es wurden hier im Rahmen des 7. Reichsparteitages der NSDAP am Abend des 15. September die Rassegesetze verabschiedet. Im Januar 1945 wurde das Gebäude durch einen Luftangriff zerstört und in den folgenden Nachkriegsjahren abgerissen. 2006 wurde an der Stelle eine Gedenkstele errichtet.
Weiter ging es nach Fürth. Dort waren wir vom Kurt-Eisner-Verein und dem Infoladen Benario zu einer Kaffeepause eingeladen. Mit kalten Getränken, Obst, Eistee- und Kaffee, Plätzchen und Kuchen konnten wir uns erst einmal von der Hitze erholen. Der Infoladen Benario ist ein antirassistischer und antifaschistischer Treffpunkt in Fürth. Seinen Namen hat er vom Fürther jüdischen Kommunisten Rudolf Benario, der 1933 im Konzentrationslager Dachau ermordet wurde
Nach einer Einführung in die Geschichte der „Arisierung in Fürth“ begaben wir uns dann mit Siegfried Imholz auf den Stadtrundgang, der wegen der Hitze nicht ganz so ausgedehnt wurde wie ursprünglich geplant. Wir besuchten mehrere Orte (Häuser), denen jüdische BürgerInnen gehörten und ihnen nach 1933 geraubt wurden. Siegfried Imholz berichtete auch vom Verbleib der jüdischen Opfer bzw. deren Angehörigen und von mehreren  Entschädigungsverfahren, die es in Fürth gab. Von 1933 bis 1945 die raubten die Nationalsozialist_innen und ihre Helfershelfer_innen den jüdischen Nachbar_innen über 300 Grundstücke und Häuser sowie 190 Unternehmen raubten. 45 ÄrztInnen, RechtsanwältInnen und ApothekerInnen wurde die Zulassung entzogen oder sie bekamen Berufsverbot. 157 FürtherInnen mussten Schmuck und Wertsachen, weit unter dem tatsächlichen Wert, abliefern. Wer emigrieren konnte, musste Sparguthaben und Wertpapiere zurücklassen. Und von den Nachbar_innen wurden noch die letzten Habseligkeiten der in die Gaskammern Deportierten günstig ersteigert. Fürther Unternehmer, Einzelhändler, Makler,  Pfarrer und hunderte „normale Mitbürger_nnen“ waren die Täter_innen. Mit über 2000 Gesetzen und Verordnungen „verrechtlicht“, war die Arisierung der größte Raub in der Geschichte der Stadt. Er vernichtete die wirtschaftliche Existenz der jüdischen Bevölkerung, bevor man sie ermordete.

Um zu Hause noch einmal etwas nachzulesen, gab es für alle Teilnehmenden eine Broschüre zum „Stadtrundgang zur Arisierung in Fürth“ und eine Materialsammlung zu Gesetzen und Verordnungen zur „Verrechtlichung“ der Arisierung.

Nach einem informativen Tag in Nürnberg und Fürth fuhren wir mit dem Bus gegen 19 Uhr in unsere Ausgangsorte zurück.

„Die Russen kommen“

Gegen Russland gerichtete Klischees und Stereotype reichen weit in die Vergangenheit zurück. Wer kennt nicht das Bild vom "russischen Bären", in dem sich Anerkennung von kraftvoller Stärke paart mit einem nahezu liebevollen Hinweis auf das "Mütterchen Russland" und die "russische Seele", das aber ebenso in x-beliebigen Bedrohungsszenarien Angst und Furcht vor dem zähnefletschenden Untier zu bewirken vermag. Russophobie schien mit dem Ende des Kalten Krieges überwunden zu sein, auch angesichts jener fatalen Wirkungen, die sowohl im Dritten Reich als auch in der BRD das warnende Wort von den Russen, die da "kommen" würden, ausgelöst hat. Wie eh und je ranken sich in der Welt von heute zahlreiche Auseinandersetzungen um den Platz, den Russland in dieser einnimmt bzw. einnehmen soll. Dabei wird kräftig auch in die prall gefüllte Kiste alter Klischees und Stereotype gegriffen. Lassen sich Kontinuitätslinien erkennen? Gibt es sogar Rückgriffe auf die völkisch-rassistischen Russlandbilder der Nazis?
Am 1. Juni 2015 warf der Jenaer Historiker Manfred Weißbecker in der Veranstaltungsreihe „Jenaer Montagstreff“ einen Blick in die Geschichte der Russophobie.
Den Text des Vortrages finden Sie hier.


100 Tage Rot-Rot-Grün – eine Zwischenbilanz

Sitzplätze waren in den Jenaer Rosensälen nicht mehr zu bekommen, so dass einige der fast 200 Zuhörerinnen und Zuhörern im Stehen verfolgen mussten, was der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow am vergangenen Dienstag, dem 14. April 2015, über die ersten 100 Tage seiner Regierung zu berichten hatte. 

Prof. Dr. Klaus Dörre vom Institut für Soziologie der FSU Jena, das gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen zu der Veranstaltung eingeladen hatte, hatte als Moderator die nicht einfache Aufgabe, aus der Vielzahl der Politikfelder, in denen ein Politikwechsel unter Rot-Rot-Grün besonders auf den Nägeln brennt, einige wenige auszuwählen und zur Diskussion zu stellen. Seine Wahl fiel auf Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, Bildungspolitik, Flüchtlingspolitik und Antifaschismus/Antirassismus – Themen, die auch bei den Zuhörerinnen und Zuhörern auf großes Interesse stießen.
Der Ministerpräsident machte deutlich, dass die im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Vorhaben nur in einem mühevollen Prozess, Schritt für Schritt – und durchaus begleitet von Hindernissen – durchgesetzt werden können.
Eine besondere Rolle in seinen Ausführungen und in der Diskussion spielten die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen (auch im universitären Bereich – ein Thema, was viele der Anwesenden besonders interessierte), die mit einer Spaltung und Entsolidarisierung der Gesellschaft einhergeht, und der Umgang mit Flüchtlingen sowie der notwendige Schulterschluss von Demokratinnen und Demokraten gegen Rassismus und Neofaschismus.
Gerade bei den beiden letztgenannten Themen wurde ein starker Impuls zum Handeln sichtbar – so gab es beispielsweise den Vorschlag, es sollten Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass an Thüringer Universitäten und Hochschulen Flüchtlingen ein kostenfreier Gasthörerstatus eingeräumt wird.


 

Rüstungsatlas Thüringen vorgestellt

Am 10.11.2014 wurde der "Rüstungsatlas Thüringen" vorgestellt. Dazu erschien folgender Artikel in der "Jungen Welt".





Arbeit und Teilhabe in Thüringen

Der Zugriff der Erwerbsarbeit auf unser Leben wird zunehmend totaler: Immer neue Bereiche des Lebens werden einer Ökonomisierung unterworfen und marktfähig gemacht. Auf der anderen Seite erzeugt die kapitalistische Produktionsweise fortwährend Menschen, die aus dem Erwerbsleben bzw. den Normalarbeitsverhältnissen gedrängt werden und dadurch sozialen und gesellschaftlichen Ausschluss erleben.
Eine gemeinsame Veranstaltung von Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen und Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag widmete sich am 4. Juli 2014 in Jena dieser Problematik. Es ging u.a. um die Bedeutung von (Erwerbs-)Arbeit für ein selbstbestimmtes Leben, um die Fachkräfte- und Wirtschaftsentwicklung in Thüringen, um die Ökonomisierung des Sozialen und Perspektiven der Sozialwirtschaft sowie um aktuelle Aufgaben der Gewerkschaften im Kampf um Gute Arbeit und die Stärkung von Arbeitnehmer_innenrechten.Nachfolgend dokumentieren wir Beiträge dieser Veranstaltung.

Prof. Dr. Hildegard Maria Nickel (Humboldt-Universität zu Berlin): Die Bedeutung von (Erwerbs-)Arbeit für ein selbstbestimmtes Leben
                                                                                 Vortrag - Präsentation

Prof. Klaus Dörre (Friedrich-Schiller-Universität Jena): Fachkräfte- und Wirtschaftsentwicklung in Thüringen – eine Analyse
                                                                                             Präsentation

MA Martin Ehrlich (Friedrich-Schiller-Universität Jena): Ökonomisierung des Sozialen – Perspektiven der Sozialwirtschaft
                                                                                             Präsentation


Kriege und kein Ende?

Nach jüngerer Mainstream- Lesart war der Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren nicht das Resultat imperialistischer Rivalitäten, sondern eine Verkettung unglückliche Zufälle aufgrund des Agierens unzulänglicher Politiker. Der Erste Weltkrieg kam gewissenermaßen als schicksalhaftes Ereignis über die Menschheit.
Am 28. Juni 2014 stellte eine Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen kritische Fragen sowohl an diese Neubewertung als auch an traditionelle linke Sichten auf den Ersten Weltkrieg.
Die beiden Redebeiträge von Manfred Weißbecker (Jena) und Stefan Bollinger (Berlin) werden hier dokumentiert.
Manfred Weißbeckers Beitrag war Bestandteil des Kolloqiums »Vor 100 Jahren: Beginn des Ersten Weltkrieges. Ursachen und Wertungen« am 11.06.2014 in Berlin. Veranstalter waren die Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung sowie der Verein der Berliner Freunde der Völker Rußlands.
Weitere Redebeiträge dieses Kolloquiums finden Sie hier:
http://www.berliner-gesellschaft.org/

Beitrag von Manfred Weißbecker
Beitrag von Stefan Bollinger


Staat-Kirche-Beziehungen in Deutschland. Historisches, Rechtsgrundlagen und aktuelle Debatten

Am 21.06.2014 lud die RLS Thüringen in Jena zu einer Debatte über Staat und Kirche in Deutschland ein. Dr. Georg Neureither von der Uni Heidelberg erläuterte einem überwiegend studentischen Interessiertenkreis die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Staat-Kirchen-Verhältnisses.
Im Gegensatz zu vielen anderen Rechtsgebieten, so führte der Referent aus, sei das Religionsverfassungsrecht in Deutschland ein Case-Law-Gebiet, dessen Prinzipien und Auslegungen sich vor allem aus wichtigen Einzelentscheidungen von Gerichten ergäben. Besonderen Schutz genieße die subjektive Interpretation des Individuums über seine Religion, was aber eine Abwägung mit den Rechten anderer nicht ausschließe. Es ergab sich eine spannende Diskussion, die viele kontrovers diskutierte Fragen wie Religionsunterricht, Staatsleistungen für die Kirchen und kirchliches Arbeitsrecht berührte. Viel zu schnell verging für alle Beteiligten die Zeit. Insgesamt bot die Veranstaltung eine solide Grundinformation über das Staat-Kirche-Verhältnis in Deutschland. Dank an den Referenten, der mit viel Herzblut dabei war und sich allen Fragen stellte.  

Portionierte Armut, Blackbox Reichtum. Die Angst des Journalismus vor der sozialen Kluft

Am 12.02.2014 stellte in einer gemeinsamen Veranstaltung von RLS Thüringen und Radio F.R.E.I. der Journalist Wolfgang Storz die gleichnamige Studie vor, in der untersucht wird, wie der Journalismus als bedeutende öffentliche Stimme die soziale Ungleichheit kommentiert. – Vor der Veransdtaltung befragte Carsten Rose von Radio F.R.E.I. den Referenten und Mitautor der Studie.


Das Interview zum Nachhören

 

Chile 1973 – 2013.

Ein Fest für die Solidarität

Bericht eines Besuchers der Veranstaltung vom 15. September 2013 in der Erfurter „Schotte“    

Migration. Integration. Inklusion - Chancen, Herausforderungen, Perspektiven

ist der Titel der Ringvorlesung in Erfurt, die wir mitorganisiert haben und unterstützen. 

Den Auftakt machte am 18. April  2013 Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland. Sein Vortrag zum Thema
Integration, Inklusion und Partizipation  zum Nachhören: http://freie-radios.net/54886

Flucht und Migration. Hintergründe und Aspekte einer ökonomisierten Wanderungsbewegung

23. April 2013 mit Koray Yilmaz-Günay

Das Phänomen Migration ist nicht neu, es hat Deutschland immer mit geprägt. Und dennoch ist das meiste, was mit Einwanderung zu tun hat, stark umkämpft. Gerade an der Frage, wer legitimer Weise Asyl in Deutschland beantragen können soll, aber auch bei Fragen wie dem Fachkräftemangel oder der sogenannten „Armutseinwanderung“ aus Ost- und Südosteuropa verschränken sich ökonomische Argumentationen mit politischen, menschenrechtlichen und/oder humanitären. Der Vortrag von Koray Yilmaz-Günay geht dem Wesen dieser Verschränkungen nach, der Schwerpunkt liegt auf der Situation in Deutschland.
Yilmaz-Günay ist bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Referent für das Themenfeld Migration. In seiner Freizeit ist er seit fünfzehn Jahren in Migranten-Selbstorganisationen und antirassistischen Gruppen aktiv. Neben Veröffentlichungen zu den Themen Migration und (Anti-) Rassismus hat er viel politische Bildung zu diesen Themen angeboten.
Bernd Löffler (RLS Thüringen) leitet den Vortrag ein, den Sie samt der anschließenden Diskussion hier nachhören können:  freie-radios.net

Europäische und deutsche Flüchtlingspolitik im Blickfeld der UN-Flüchtlingskonvention

lautete der Titel der Veranstaltung am 30. April 2013. Referent war Lorenz Krämer, Mitarbeiter im EU-Parlament bei Cornelia Ernst, MdEP (Die Linke).
Die Migrationspolitik der EU und der Mitgliedstaaten gerät immer wieder mit den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen der Staaten, ob auf UN- oder Europaratsebene, in Konflikt. Eine der Ursachen liegt in der ungenügenden Zuteilung der Kompetenzen zwischen der europäischen und der nationalstaatlichen Ebene. Daraus resultiert eine Situation, die es den beteiligten Akteuren ermöglicht, die eigene Verantwortung zu bestreiten. In seinem Vortrag stellte Lorenz Krämer diese Verhältnis dar, thematisierte einige jüngere Entwicklungen auf dem Gebiet, wie die Rechtssache Hirsi vor dem EMRG, und versuchte abschließend Wege zur Lösung zu skizzieren.
Nachhören kann man die Veranstaltung hier: freie-radios.net

Wie Demokratien Ausnahmeräume schaffen. Über die Grenzen rechtlich integrierter Gemeinschaften

Veranstaltung am 7. Mai 2013 mit Dr. Julia Schulze-Wessel 

Liberale Demokratien tragen von Anbeginnn ein Versprechen in sich: das Versprechen auf die integrative Kraft des Rechts und die Ausweitung der Partizipationschancen für alle, die auf einem bestimmten Territorium wohnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses Versprechen auch auf Nicht-Staatsbürger ausgeweitet. Seit einigen Jahren jedoch wird diese Entwicklung von der Schaffung von „Ausnahmeräumen“ begleitet, in denen Rechte teilweise oder völlig außer Kraft gesetzt werden. Der Vortrag beleuchtete das Entstehen solcher Ausnahmeräume in Demokratien und an ihren Grenzen.
Dr. Julia Schulze Wessel studierte Diplom-Sozialwissenschaften an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg und war von Januar 1999 bis Oktober 2000 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Hannah Arendt Archivs Oldenburg. Seit Januar 2002 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte der TU Dresden und wurde 2005 promoviert.
Nachzuhören unter: freie-radios.net

„Freiwillige“ Rückkehr als dauerhafte Lösung für Flüchtlinge? Rückkehrprogramme in den Irak und nach Afghanistan

Veranstaltung mit Evelien Willems im Rahmen der Ringvorlesung  am 14.05.2013

Die Referentin berät am Institut für Berufsbildung und Sozialmanagement (IBS) Erfurt Zuwanderer in Fragen der beruflichen, schulischen und akademischen Anerkennung von Abschlüssen, die im Ausland erworben wurden, sowie Frauen mit Migrationshintergrund zu Erwerbsmodellen, Qualifizierungsmöglichkeiten, Kinderbetreuungs- und anderen Unterstützungssystemen. In ihrem Vortrag ging sie auf die in der Flüchtlingspolitik üblichen drei Lösungsoptionen für Flüchtlingssituationen ein: Integration in die Aufnahmegesellschaft, Neuansiedlung in einem Drittland („resettlement“) oder freiwillige Rückkehr ins Heimatland. In den vergangenen 30 Jahren hat sich in der internationalen Staatenpraxis und beim Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) die freiwillige Rückkehr ausdrücklich als bevorzugte Lösung durchgesetzt. Sie wird als humanere, nachhaltigere und kostengünstigere Alternative zur zwangsweisen Rückführung gesehen. Das verstärkte Interesse von Aufnahmeländern, eine freiwillige Rückkehr zu fördern hat zu einer gestiegenen Zahl von „Rückkehrprogrammen“ geführt, welche in Zusammenarbeit mit dem UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) durchgeführt werden. Obwohl der Begriff der freiwilligen Rückkehr mittlerweile im internationalen Sprachgebrauch fest verankert ist, fehlt bis heute eine allgemein rechtsverbindliche Definition, wann eine Rückkehr als freiwillig gelten kann. Von Flüchtlingshilfsorganisationen wird immer öfter angemerkt, dass Flüchtlinge und Asylbewerber gezielt unter Druck gesetzt werden „freiwillig“ auszureisen. Sie kritisieren, die freiwillige Ausreise sei nichts als die Flucht vor der Abschiebung. In ihrem Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung stellte Evelien Willems die relevanten rechtlichen Rahmenbedingungen und die internationalen „Mindestanforderungen“ an die ordnungsgemäße Durchführung einer freiwilligen Rückkehr vor. Zwischen diesen Grundsätzen und der rechtlichen und realen Lebenssituation von Flüchtlingen bestehen jedoch große Diskrepanzen. Anhand eines Einblicks in die Praxis der Rückkehrberatung von afghanischen und irakischen Flüchtlingen (aus den Aufnahmeländern Pakistan bzw. Niederlanden) wurde von der Referentin der Grad der Freiwilligkeit der Rückkehrentscheidungen kritisch hinterfragt. Wie ist die Lebenssituation, in der die Entscheidung getroffen wird? Welche Informationen stehen den Betroffenen zur Verfügung und wie groß ist ihr Gestaltungsspielraum? Abschließend wurden bestehende Ansätze zu einer nachhaltigen, dem Geist der UN-Flüchtlingskonvention entsprechenden Rückkehrpolitik erörtert.

Zum Nachhören: freie-radios.net

Das Recht auf Asyl

war das Thema des Vortrags von Prof. Dr. Dietmar Herz, Staatssekretär im Thüringer Justizministerium, am 21. Mai 2013.
Der Vortrag spannte den Bogen von den Ursprüngen des Asyl-Gedankens, seiner Geschichte, der Regelung im Grundgesetz und der völker- und europarechtlichen Ausgestaltung dieses Rechts. Diskutiert wurden auch die politischen Dimensionen von Emigration und Asyl sowie die Frage nach dem Zusammenhang von xenophoben Vorstellungen, nationalistischer Rhetorik („Das Boot ist voll“) und den Erwartungen an einen dem Gedanken der Humanität verpflichteten Rechtsstaat.

Zum Nachhören: freie-radios.net

„Deutsche, britische und niederländische Stimmen des Aufbruchs in Europa: ‚Neu’-BürgerInnen jenseits nationaler Begrenzungen“

Veranstaltung am 28. Mai mit Dr. Ulrike Vieten (Universität Sheffield)

Sie widmete sich der Frage, wie MinderheitsbürgerInnen, die entweder als MigrantInnen oder als „Neulinge“ in etablierten nationalen Gesellschaften angesehen werden, auf die medial und politisch an sie gestellten Integrations- und Einbeziehungsfragen antworten. Im Unterschied zu einer Mehrheitsperspektive, die gelungene oder gescheiterte nationale untersucht und fordert, interessierten die Referentin dabei die Erfahrungen, Aktivitäten und Ansichten von marokkanisch/berberisch-niederländischen, indisch/pakistanisch-britischen und türkisch/kurdisch-deutschen BürgerInnen, die als (Schlüssel)-AktivistInnen in hegemoniale Schließungsprozesse eingreifen und sich kritisch mit Bürgerrechten, Menschen- und Frauenrechten auseinandersetzen. Sie zeigte unter anderem auf, dass die Spannungen zwischen verschiedenen national-ethnischen, diasporischen und post-nationalen Identitäten nicht nur zur kosmopolitischen Reibung mit nationaler Politik, Staat und Gesellschaft führen, sondern auch zu signifikant unterschiedlichen Identifikationen mit Europa.

Zum Nachhören: http://freie-radios.net


Am 4. Juni folgte der Vortrag von Prof. Dr. Sabine Hess (Georg-August-Universität Göttingen) zur
„Problematik des Integrationsparadigmas“.
Ausgehend von Forschungsprojekten zur Geschichte der Migration in München und Göttingen unternahm die Referentin den Versuch einer genealogisch-ethnographischen Rekonstruktion: Sie zeigte auf, wie Integration zunächst eine migrantische Forderung nach Teilhabe und Inklusion war, die dann später aber zunehmend staatlich kooptiert und gegen migrantische Praktiken und Interessen zur Forderung nach kultureller Anpassung gemacht wurde. Der Vortrag machte deutlich, auf welchem Gesellschaftsverständnis eine derartige integrationistische Perspektive beruht und stellte die Frage nach alternativen Paradigmen und Konzepte.

Zum Nachhören: freie-radios.net

„Von der Unmöglichkeit anzukommen. Kunsttherapie mit Asylsuchenden"

Am 11. Juni präsentierte Christian Widdaschek von der Alice-Salomon-Hochschule Berlin in seinem Vortrag im Rahmen der Erfurter Ringvorlesung Konsequenzen einer transkulturellen Perspektive, sowohl für Forschung im Kontext von Migration, als auch für eine adäquate Einschätzung der Belastungen von Menschen in Migration. Vor diesem Hintergrund stellte er die kunsttherapeutische Arbeit als eine adäquate therapeutische Methode vor, um auf die Akkumulation der biografischen und strukturell-lebensweltlichen Belastungen von Asylsuchenden zu antworten. Dem Vortrag lag eine fünfjährige qualitativ-empirische Forschung zugrunde, die in Kooperation mit dem Zentrum für interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin Mitte (ZIPP), durchgeführt wurde. – Der Referent ist Kunsttherapeut und arbeitet seit 2006 mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Migrationshintergrund, Migranten und Asylsuchenden.  

Aus technischen Gründen steht für diese Veranstaltung leider kein Mitschnitt zum Nachhören zur Verfügung.


„Selbstorganisation und Partizipation von Migrant_innen
Iman Attia von der Alice Salomon Hochschule Berlin sprach am 18. Juni über Organisationsstrukturen und Projekte von Migrant_innenselbstorganisationen (MSO), die häufig als traditionalistische Vereine belächelt, die Herkunftskulturen pflegten und wenig politisch, zukunftsorientiert und integrationsfördern seien. Demgegenüber legte die Referentin den Fokus auf die politischen Gelegenheitsstrukturen der Bundesrepublik, die ausschlaggebend für die Konstitution der Vereine und die Inhalte sind, mit denen sie sich beschäftigen. Der internationale Vergleich von MSOs gleicher Herkunftsgruppen zeigt, dass MSOs sich weniger nach Herkunft unterscheiden und deutlicher nach Einwanderungsgesellschaft. Sie stellen Zusammenschlüsse dar, die sich mit jenen Themen beschäftigen, die sich aus ihrer aktuellen Situation in der jeweiligen Einwanderungsgesellschaft ergeben und wählen jene Formen, die ihnen dafür sinnvoll erscheinen und im jeweiligen Kontext möglich sind. Insofern können sie als Formen der politischen Partizipation verstanden werden, auch dann, wenn sie auf den ersten Blick keine politische Arbeit leisten und sich stark an „der Heimat“ orientieren. – Die Referentin, seit 2009 Professorin für Diversity Studies mit den Schwerpunkten Rassismus und Migration an der Alice Salomon Hochschule Berlin, sammelte Praxiserfahrungen unter anderem in der Gemeinwesenarbeit und bei Beratungstätigkeiten in einem Frauenhaus. Im Rahmen ihrer Forschung beschäftigte sie sich unter anderem mit der Implementierung eines Täter-Opfer-Projekts, mit dem Thema Antisemitismus unter Frauen, mit antimuslimischem Rassismus im Alltagsdiskurs, mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund auf Ausbildungsplatzsuche, aber auch mit interkultureller Kommunikation und der Evaluation von Bildungsmaßnahmen und Netzwerken gegen Rechtsextremismus sowie zur Demokratieförderung.

Aus technischen Gründen steht für diese Veranstaltung leider kein Mitschnitt zum Nachhören zur Verfügung.


"Rechtliche Anerkennung des Anderen oder institutionalisierte Ausgrenzung des Fremden? Der double-talk des Zuwanderungsrechts"
Am 25. Juni widmete sich Wolfgang Behlert in seinem Vortrag dem deutschen Zuwanderungsrecht. Das Zuwanderungsgesetz von 2005 nahm erstmals zur Kenntnis, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland ist – ca. 50 Jahre zu spät. Die Versäumnisse dieser Zeit sind nur schwer aufzuholen, zumal sich an den Prämissen des Zuwanderungsrechts auch in der Folgezeit nur wenig geändert hat: Zuwanderungsrecht ist vornehmlich Ordnungsrecht, Polizeirecht, Recht der Gefahrenabwehr und nur ganz am Rande auch Gestaltungsrecht. Aber selbst dann geht es vornehmlich um die Gestaltung wirtschaftlicher Verhältnisse, um die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen der Aufnahmegesellschaft. Natürlich – wie wäre dies zu bestreiten – dient das Zuwanderungsrecht auch der Umsetzung völkerrechtlicher und humanitäre Verpflichtungen. Auf Dauer lässt sich aber auch hier, so wie auch an anderen Stellen in der Gesellschaft, eine Umkehr von humanitären Zwecken und marktwirtschaftlichen Mitteln beobachten. Die Folgen sind auch für die Aufnahmegesellschaft fatal, entwickelt und verstärkt sie doch Tendenzen der Abschottung, des Ethnozentrismus und auch eines mehr oder weniger latenten Rassismus. - Der Referent ist Jurist und Rechtssoziologe an der Ernst-Abbe-Fachhochschule Jena. Er war langjähriges Mitglied der Fachkommission Intergovernmental Organizations bei der deutschen Sektion von „amnesty international“ und arbeitet in verschiedenen lokalen Initiativen und Vereinen auf den Gebieten des Flüchtlingsschutzes und der Entwicklung transkultureller Praktiken mit.

Zum Nachhören: www.freie-radios.net

                                  Hier der Sachbericht zur Veranstaltungsreihe

Arbeitswelt im Wandel

Gemeinsame Tagung der Fraktion DIE LINKE. im Thüringer Landtag und der RLS Thüringen
Erfurt, 12. April 2013

Wir leben in einer Zeit grundlegender Veränderung der Arbeitsgesellschaft. Angesichts tiefgreifender Entwicklungen der Produktivkräfte durch Informations- und Kommunikationstechnologien, zunehmendem Druck der Kapitalverwertung unter den Bedingungen der Globalisierung und des Finanzmarktkapitalismus sowie demografischer Veränderungen sind die Fragen nach dem Stellenwert von Erwerbsarbeit und der Zukunft der Arbeitsgesellschaft neu zu beantworten. Der Arbeitsmarkt ist tief gespalten. Lebendige Arbeit wird immer mehr marginalisiert und der Konsens, dass Mensch in Vollzeit von seiner Arbeit leben kann, ist nicht mehr gewährleistet. Armut trotz Arbeit ist heute keine Ausnahmeerscheinung. Zunehmend macht Erwerbsarbeit krank.
Mehr denn je ist eine Produktions- und Lebensweise notwendig, die nicht mehr von der Wachstumsideologie „Schneller – höher – weiter“ geprägt ist, den Menschen Zeit zum Mensch-Sein lässt, sowie den Raubbau an der Natur und die Zerstörung der Lebensgrundlagen beendet. Stattdessen muss der Übergang zu einer den tatsächlichen Bedürfnissen von Mensch und Gesellschaft angepassten solidarischen Ökonomie vollzogen werden, die allen Frauen und Männern - mit und ohne Erwerbsarbeit - ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.

Wir dokumentieren mit freundlicher Genehmigung des Autors nachfolgend den Einführungsbeitrag der Tagung:

Dr. Frank Engster: Arbeitswelt im Umbruch


Unerwünscht

Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte

Veranstaltungsreihe „Geraer Gespräch“, 9. April 2013

Mojtaba, Masoud und Milad Sadinam wachsen im Iran der 1980er Jahre als Kinder regimekritischer Eltern auf. Als ihre Mutter bei einer verbotenen Flugblattaktion auffliegt, müssen sie untertauchen. Mit Hilfe eines Schleppers gelangen sie im Sommer 1996 illegal nach Deutschland. Ohne Geld, ohne Papiere und ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, landen sie in einem Auffanglager bei Münster. Dann der Schock: Ihr Asylantrag wird abgelehnt, sie werden zur sofortigen Ausreise aufgefordert … Wie Mojtaba, Masoud und Milad eine Integration gegen alle Widerstände und bürokratischen Schikanen erreichen, davon berichten sie gemeinsam in diesem Buch. Es ist die Geschichte eines Flüchtlingsschicksals – vor allem aber eine Parabel über Brüderlichkeit, Mut und Menschlichkeit.
Ursprünglich sollte die Lesung am 12. März, im Rahmen der „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ stattfinden. Das Schneechaos auf den Straßen zwang Mojtaba und Masoud Sadinam, die bereits zur Lesung nach Gera unterwegs waren, auf halber Strecke zur Umkehr, und die Veranstaltung wurde auf dem 9. April verschoben. Die Zwillingsbrüder lasen zunächst Abschnitte aus dem Buch, in denen ihre eigenen Erfahrungen und die ihres jüngeren Bruder mit der deutschen Asylbürokratie beschrieben sind. Bereits Mojtabas Eindrücke vom Leben im Asylbewerberheim und Masouds Erlebnisse aus der Schule machten das Publikum sprachlos. Milads Bericht über die behördlich verfügte Abschiebung löste dann eine rege Diskussion aus.
Die Brüder betonten, dass Asylbewerber ein Teil jener Menschen in Deutschland sind, denen Menschenwürde und Selbstbestimmungsrecht systematisch entzogen werden, und zogen Parallelen zur Diffamierung von Hartz-IV-Empfängern. Während Deutschland Kriege unterstützt, die angeblich dem Schutz der Menschenrechte dienen, schlage es den Opfern dieser Kriege im eigenen Land die Tür vor der Nase zu.
Die Diskussion war emotional sehr bewegend. Eine Zuhörerin brachte zum Ausdruck, dass die geschilderten Zustände eine Schmach für dieses Land sind, gegen die etwas getan werden müsse. Am Ende gab es Umarmungen und kleine Geschenke für die Brüder.

(Quelle: Sirko Matz)

Schule ohne Lehrer

Die Bildungsmisere in der Bundesrepublik

Geraer Gespräch der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen am 29. Januar 2013
Bericht (pdf, 401 kb) in der OTZ am 31.01.2013


Erfurt und Thüringen auf dem Weg ins "Dritte Reich"

 

An den 80. Jahrestag der Machtübertragung an Hitler erinnerte die Rosa- Luxemburg-Stiftung am 30.01.2013 mit einer Veranstaltung in der Erfurter Kleinen Synagoge. Dr. Steffen Rassloff vom Erfurter Geschichtsverein setzte sich mit erfolgreichen Strategieelementen der NS-Bewegung aus den Jahren vor 1933 auseinander und stellte Bezüge zu den Einflusstrategien der extremenRechten her, die, oftmals unterschätzt, in Erfurt und Thüringen heute zum Zuge kommen.

Rassloff verwies auch auf die Entwicklungsbedingungen des Masseneinflusses der Nazis vor 1933 und hob die Bedeutung der Hilflosigkeit und der falschen Strategien der Republik gegenüber der Krise hervor. Unter den Bedingungen einer offensichtlich zerfallenden sozialen und kulturellen Verantwortung der Gesellschaft konnten die Strategien der Nazis (u.a. freches und rigoroses Auftreten, Appell an die Gefolgschaft der Menschen, Gewaltandrohung, Sündenbockpropaganda und Schmeichelei gegenüber der Masse) in kurzer Zeit zu einer Art Rausch führen. Dem lag der unbedingte Wille vieler: „Nur nicht weiter so!“ zugrunde.

In der Diskussion der etwa 25 TeilnehmerInnen wurden einzelne Aspekte des Vortrages vertieft und - bei allen Unterschieden der Weimarer Situation zur Bundesrepublik heute - die Notwendigkeit betont, die Strategien der extremen Rechten im Auge zu behalten und ihnen überall entgegenzuwirken.

Die Bewahrung der kulturellen und sozialen Substanz unserer Gesellschaft ist in höchstem Masse demokratierelevant. Das sollte gerade in Zeiten knapper öffentlicher Kassen bewusst sein. Die schlimmen Folgen des 30.Januar 1933 mahnen dazu.

(Veranstaltungsbericht von Steffen Kachel)


Trotz Repression: Irans Regime hat Angst vor Frauen und Studierenden

Wirtschaftssanktionen und Interventionspläne des Westens schwächen den Widerstand und nützen dem Regime, weil sie von eigenen Problemen ablenken können

Von Ercan Ayboga


Am 24. November fand in der Kleinen Synagoge in Erfurt eine Diskussionsveranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen zur Opposition im Iran statt. Vier Referenten beleuchteten die verschiedenen Aspekte der gesellschaftlichen Widerstände. Der Fokus dieser Veranstaltung konzentrierte sich bewusst nicht auf die Diskussion um das Atomwaffenprogramm des iranischen Staates, was in der Vergangenheit schon viele Veranstaltungen getan haben. Dadurch gilt der iranische Staat in der westlichen Mehrheitsöffentlichkeit immer mehr als die größte Gefahr des Weltfriedens. Dabei wird oftmals der Eindruck erweckt, dass nach der „Grünen Revolte“ von 2009 innenpolitischer Friede eingekehrt wäre. Die Lage im Iran ist jedoch gerade in den letzten Jahren immer mehr durch zahlreiche Widerstände geprägt.

Die Einführung gab der Kolumnist Bernard Schmid aus Paris, der die iranische Revolution von 1979 analysierte und die Entwicklung der oppositionellen Kräfte beschrieb. Demnach verstand es das islamistische Regime kurz nach der Revolution die linken Kräfte zu spalten, deren frühere Ausdifferenzierung sich in den darauffolgenden Jahrzehnten als tragisch darstellte. Die Zeit mit Khatami (Präsident 1997 - 2005) sei trügerisch gewesen, da eine Transition dieses Regimes auch heute noch unmöglich sei, so Schmid. Auch Mussavi von der „Grünen Bewegung“ ist Teil der Elitenkonkurrenz, die stark ausgeprägt ist.

Der Autor Peyman Javaher-Haghighi ging auf die institutionalisierte Frauenapartheid ein. Er hob hervor, dass bei Krisen der Druck auf die Frauen zunimmt, da Frauen selbstbewusst auftreten, nach individuellen Freiheiten suchen und bei Protesten eine federführende Rolle einnehmen können. Genauso hat das Regime Angst vor den Studierenden, die trotz aller ideologischer Uni-Strukturreformen und Repressionen immer wieder revoltieren. „Das Nest der Säkularisierten“ mit heute 3,5 Millionen. Studierenden müsse zerschlagen werden, so das Denken des Regimes. Auf diesen beiden und der Bewegung der ArbeiterInnen sowie verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen basiert die „Grüne Bewegung“, die insbesondere von der weniger ideologisierten Jugend getragen wurde.

Worian Ahmadi von der Kommunistischen Partei Irans behandelte die Lage der arbeitenden Menschen, die bei jedem Engagement für ihre Rechte mit systematischer Repression konfrontiert werden. Im Iran gibt es unzählige illegale Gewerkschaften und Komitees, die meistens nicht parteipolitisch getragen werden. Die jüngste Wirtschaftskrise mit hoher Inflation trifft natürlich vor allem die Arbeitenden, die es zudem auch immer häufiger mit Zeitarbeit zu tun haben.

Ein an der Uni Heidelberg promovierender Referent sprach über den Widerstand in Kurdistan, da die Kurden zu den wichtigsten Gruppierungen im iranischen Staat zählen.  Die KurdInnen im Iran werden nicht wie in der Türkei und Syrien geleugnet. Die Unterdrückung äußert sich subtiler, da ihnen die PerserInnen sprachlich und kulturell nahe stehen. Doch die Repression ist tatsächlich so groß wie in Kurdistan, wo zudem die Arbeits- und Perspektivlosigkeit sehr groß ist. Aus Kurdistan kommen viele Menschen nach Teheran oder wandern in ökonomischen Zentren aus, auch weil es in Kurdistan viele ArbeiterInnen gibt, doch keine Fabriken. Hervorzuheben ist die PJAK (Partei für ein Freies Leben in Kurdistan), welche in den letzten Jahren vor allem unter Jugendlichen Sympathien genießt. Die PJAK, welche auch mit einer Guerilla gegen das Regime kämpft, hat durch ihr politisches Projekt des „Demokratischen Konföderalismus“ große Aufmerksamkeit erregt. Damit sind Demokratie von unten und Selbstverwaltungsstrukturen für alle Menschen im Iran gemeint.

Alle vier Referenten haben allgemeine Wirtschaftssanktionen gegen den Iran abgelehnt, aber eine Sanktion gegen Rüstungsgüter befürwortet. Auch sprachen sie sich gegen eine ausländische Intervention im Iran aus, was fatale Folgen für die Gesellschaft haben würde. Das wäre für das Regime hilfreich, die mit ihren verbalen internationalen Attacken von den eigentlichen Problemen im eigenen Land ablenkt. Das totalitäre Ahmedinejad-Regime möchte zwar Atomwaffen herstellen, hat aber tatsächlich nicht das Interesse an einem Krieg mit Israel, den USA oder anderen Mächten und - es ist kein Selbstmordregime. Auch darin waren sie alle Referenten einig.
Die Experten forderten zunächst die Erarbeitung eines realistischen Bildes der Menschen im Iran. Als zweiten Schritt muss es einen kritischen Umgang mit der Politik der Bundesregierung geben, welche die Menschenrechte und nicht das Nuklearprogramm ins Zentrum rücken muss. Von der Zivilgesellschaft erwarten sie, dass die Nuklearfragen mit Menschenrechtsfragen verbunden werden. Außerdem muss es auch in Deutschland einen kritischeren Umgang mit Unternehmen wie Siemens geben, die z. B. Abhörtechniken geliefert haben sollen. Auch eine höhere Aufmerksamkeit für Inhaftierte im Iran kann etwas für diese Menschen bringen.

Quelle: UNZ, 25/26 2012