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Besprechung der Studie zur Novemberrevolution 1918 in Thüringen von Mario Hesselbarth

Von Professor Dr. Manfred Weißbecker

Befassen sich Historiker mit regional- oder lokalgeschichtlichen Ereignissen, stehen sie in der Regel vor einigen Schwierigkeiten: Jede Darstellung kommt ohne den Bezug zum Geschehen auf nationaler, mitunter auch auf internationaler Ebene nicht aus. Zumeist kann, nein: darf es aber sich nicht um ein schlichtes Spiegelbild handeln, in dem Spezifisches fehlt und Unterschiedliches zum Allgemeinen kaum erkennbar bleibt. Dem Autor des vorliegenden quellengesättigten Bandes – er trat bereits mit einigen Publikationen in Erscheinung [1] – gelingt der Spagat. So sparsam seine Hinweise auf das Geschehen in Deutschland geraten, sie treffen sich stets mit dem in den damaligen thüringischen Kleinstaaten. Was hier in den drei Monaten unmittelbar nach dem 9. November 1918 passierte, wird sorgfältig beschrieben und erzählt, mitunter in einem erfreulich lebendig-dokumentarischen Stil. Durchgehend bemüht sich Hesselbarth aus demokratisch-sozialistischer Perspektive um eine ausgewogene Sicht auf die doppelte Bilanz der Revolution von 1918/19. Ihm geht es einerseits um die Niederlage der Revolutionäre mit ihren dramatischen Folgen für die deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts, andererseits um den gesellschaftlichen Fortschritt, der gegenüber dem 1871 begründeten preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat erreicht werden konnte. Seine Wanderung auf dem schmalen Grat zwischen Fehlendem und Geleistetem ist gelungen. [2]

Wenige Seiten genügen dem Verfasser, um einleitend die zentralen gesellschaftlichen Problemfelder in den letzten Jahren des Ersten Weltkrieges zu benennen sowie deren bisherige Behandlung in Historiografie und Politik zu kennzeichnen. Alles rankt sich für ihn um die Auseinandersetzungen zwischen den Verfechtern eines reinen Macht- bzw. Siegfriedens, verkörpert vor allem in der 1917 gegründeten Deutschen Vaterlandspartei, und denen, die angesichts des Kriegsverlaufes nach einem Verständigungsfrieden strebten. Im Ringen um die Beendigung des Weltkrieges schwang die Frage nach der weiteren politisch-gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands stets mit. Im November 1918 sei es vorrangig um Frieden und Demokratie gegangen, um „die republikanische Staatsform, um individuelle und kollektive staatsbürgerliche Freiheiten und Rechte, um Emanzipation, um die Lösung der sozialen Frage einschließlich der Eigentumsfrage.“ (7)

Im Mittelpunkt des Bandes stehen die revolutionären Akteure, die vielfach in spontanen Massenaktionen sich die scheinbar festgefügte Ordnung, aber auch gegen die Burgfriedenspolitik von SPD und Gewerkschaften richteten. Hesselbarth spricht von einer Aufstandsbewegung für den Frieden, die in großen Streikkämpfen bereits zu Beginn des Jahres 1917 das Reich erschütterten und sich als eine Art „Generalprobe“ für die Novemberrevolution erwiesen. Gestreikt wurde in Thüringen allerdings nur in Erfurt, Gotha und Jena, wo es große Rüstungsbetriebe gab. Mit zahlreichen Beispielen aus einzelnen thüringischen Orten wird gezeigt, wie dann im Herbst 1918 eine revolutionäre Situation entstand. Der Verfasser beschreibt die Rückwirkungen der unzulänglichen Reformpolitik der Regierung des Prinzen Max von Baden auf die thüringische Kleinstaatenwelt (S. 46-63), wobei es um dringliche Forderungen nach demokratischen Rechten bei Wahlen zu den Landtagen ging und zugleich gefragt wurde, ob man sich künftig wirklich noch neun (!) einzelne Staatsregierungen leisten wolle. In diesen Auseinandersetzungen verstärkte sich auch hier der Gedanke, dass jede Fortsetzung des Krieges sinn- und hoffnungslos ist, dass es in jeder Hinsicht eine Alternative zum Bestehenden geben muss. Hesselbarth zitiert dazu einen Artikel des SPD-Reichstagsabgeordneten Arthur Hofmann im Saalfelder Volksblatt vom 16. Oktober 1918: „Wir stehen vor einem Wendepunkt der Geschichte und wenn wir zurückschauen und danach vorwärts, so wissen wir, dass Wilhelm der Zweite der letzte ‚Soldatenkaiser‘, der letzte Repräsentant des Obrigkeitsstaates gewesen ist und dass Leute von seinem Schlag nicht mehr hineinpassen in die Zeit des beginnenden Volksstaates.“ (43)

Das Hauptaugenmerk richtet Hesselbarth vor allem auf das Handeln und Wirken der Arbeiter- und Soldatenräte. Diese agierten, nachdem sich die lokalen aufständischen Soldaten sehr schnell mit der organisierten Arbeiterbewegung vor Ort zu gemeinsamen Aktionen verbündet hatten, als Machtorgane von Friedensbewegung und Revolution, Sie sahen sich politisch repräsentiert durch die USPD, die der Friedensbewegung zugleich eine radikale Stoßrichtung gegeben habe. Frieden, Freiheit und Sozialismus – um diese Ziele wurde gerungen: „Wer ernsthaft den Frieden will, muss denen, die bisher die Militärdiktatur ausgeübt haben, für immer die Möglichkeit nehmen, jemals wieder ihre diktatorischen Gelüste ausleben zu können“ (Zitat aus der Reußischen Volkszeitung vom 31. Oktober 1918). Der Arbeiter- und Soldatenrat Nordhausens formulierte am 11. November 1918: „Der Sozialismus ist der Friede! Der Sozialismus ist Freiheit und Gerechtigkeit! Der Sozialismus ist die Sicherung des Brotes für alle!“ (60 f.)

Deutlich unterscheidet Hesselbarth das Bemühen der Räte, Gewalt zu vermeiden sowie Ruhe und Ordnung zu bewahren, von jenem folgenreichen Konzept der SPD-Führung, lediglich ein Konkursverwalten des alten Regimes betreiben zu wollen. Er befasst sich auch mit der Frage, inwieweit Vertreter des Bürgertums in den Räten mitarbeiten wollten bzw. durften. Dabei wird die Auffassung korrigiert, diese seien verzweifelt, mutlos und in Gleichgültigkeit verfallen gewesen. Zugleich benennt er als Forschungsaufgabe, Rolle und Wirken der Bürgerausschüsse und Bürgerräte näher zu untersuchen.

Anhand aller Beispiele aus Thüringen belegt der Verfasser die Tatsache, dass die Novemberrevolution eine ausgesprochen friedliche gewesen ist. Nirgendwo floss hier Blut. Es wurde weder geraubt noch geplündert. Es gelte, das „Ehrenschild“ rein zu halten und sich nicht zu unbesonnenen Handlungen hinreißen zu lassen, erklärte ein Erfurter USPD-Funktionär, der dem jedoch deutlich hinzufügte: „Umso entschiedener müsse aber der entschlossene Wille zum Ausdruck kommen, dass die Arbeiterschaft eine Hemmung der freiheitlichen Entwicklung nicht dulden werde.“ (72) Daher bemühen sich die Räte auch um eine allgemeine Entwaffnung, in einigen Fällen auch um die Bildung eigener Volkswehren oder Wach- und Sicherheitsorganisationen. Am 8. Dezember hieß es für die Erfurter Volkswehr: „Für unsere reaktionären Finsterlinge möge die Wehr dauernd eine Warnung sein. Jeder Versuch, durch verbrecherische Putsche die Errungenschaften der Revolution zu zerstören, wird sie auf ihrem Posten finden.“ (118) Wegen ihres demokratischen Charakters und ihres weitgehenden Verzichts auf militärische Machtdemonstrationen unterschieden sich diese bewaffneten Organisationen „grundlegend von den Freikorps der Ebert/Noske“. (120) Hesselbarth meistert auch die Schwierigkeiten, die Vorgänge in den einzelnen Fürstentümern parallel darzustellen sowie Unterschiede und Übereinstimmungen zu kennzeichnen. Das gilt insbesondere für jene Abschnitte, in denen er die unterschiedlichen Formen des Übergangs von der Fürstenherrschaft zu neuen demokratischen Verhältnissen skizziert. Er spricht da von „provisorischer Räteherrschaft“ in Sachsen-Weimar-Eisenach, Reuß jüngere und ältere Linie und Sachsen-Gotha, ferner von „Transformation“ in Sachsen Altenburg sowie von „gesetzlichem Übergang“ in Sachsen-Meiningen, Schwarzburg-Sondershausen und Schwarzburg-Rudolstadt. Anfangs fügten sich zumeist die Vertreter der alten Macht; aus dem Magistrat von Mühlhausen stammt der bezeichnende und für den Titel des Bandes gewählte Satz: „Gegen das Hissen der Roten Fahne auf dem Rathaus erheben wir keinen Einspruch.“ Die Organisation der Arbeiter- und Soldatenräte sei in den thüringischen Kleinstaaten gewissermaßen von oben her erfolgt, im preußischen Regierungsbezirk, vor allem in Erfurt, eher von unten.

Die Bildung einer Republik Großthüringen war während der Novemberrevolution eine der zentralen Forderungen sowohl der SPD als auch der USP in allen Kleinstaaten. Über den konkreten Weg dahin wurde intensiv debattiert, u.a. auch auf der von Hesselbarth ausführlich behandelten Konferenz der Arbeiter- und Soldatenräte vom 10. Dezember 1918, die den Anstoß zur Bildung des Landes Thüringen am 1. Mai 1920 gab. Alles in allem: Ein aufschlussreicher Band, dessen Erscheinen die Thüringer „Rosa-Luxemburg-Stiftung“ ermöglichte, und dem zu wünschen ist, im Gewirr der allgemeinen Jubiläumskampagnen nicht unterzugehen.

Mario Hesselbarth, „Gegen das Hissen der roten Fahne auf dem Rathaus erheben wir keinen Einspruch“ Novemberrevolution 1918 in Thüringen. Publikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen e.V., Jena 2018, 146 S. (Bestellung gegen Port und kostenloser Download unter th.rosalux.de/publikation/id/39223/gegen-das-hissen-der-roten-flagge-auf-dem-rathaus-erheben-wir-keinen-einspruch/)

[1] Siehe Mario Hesselbarth, Historische Faschismusanalysen und ihr Stellenwert für die heutige Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus. In Mathias Günther (Hrsg.), Heute Sachsen, morgen Deutschland? Rechtsextremismus heute. Eine Bestandsaufnahme, Jena 2005; Mario Hesselbarth, Eberhart Schulz und Manfred Weißbecker (Hrsg.), Gelebte Ideen. Sozialisten in Thüringen, Jena 2006; ders., Zur Geschichte der USPD in Thüringen, Jena 2017.

[2] Wie wertvoll lokalgeschichtliche Studien sein können, wenn sie auch von einem genauen Blick auf das Gesamtgeschehen in Deutschland getragen sind, belegen u.a. die Publikationen von Gerrit Brüning („Novemberrevolution und Räterepublik in Bremen“) und Kurt Baumann („’Erziehung der Arbeiterjugend zum Klassenbewusstsein’. Die Hamburger Arbeiterjugendbewegung in Weltkrieg und Novemberrevolution“) In: Marx-Engels-Stiftung und Gerrit Brüning/Kurt Baumann (Hrsg.), Novemberrevolution 1918/19. Ereignis – Deutung – Bedeutung, Neue Impulse Verlag Essen 2018.

(Nachdruck der Besprechung aus der Zeitschrift „Z – Marxistische Erneuerung“ (Nr. 117 - 2019 / www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de) mit freundlicher Genehmigung der Redaktion)