Nachricht | Diskussion zu "Wie weiter in Thüringen"

Ein Beitrag unseres Mitglieds Paul Becker

Nach dem Beitrag „«Tage die das Land bewegen» – zum Zweiten“ des Regionalbüroleiters Volker Hinck erreichte uns ein weiterer Diskussionsbeitrag von Paul Becker dazu, wie es mit den rot-rot-grünen Minderheitsregierung in Thüringen weitergeht.

Wir freuen uns darüber, dass unsere Mitglieder unsere Stiftung als Diskussionsforum begreifen und dokumentieren daher im Folgenden in Absprache mit dem Autor den Beitrag von Paul Becker.

Von Minderheiten, Macht und Perspektiven

Paul Becker

Mit einem Paukenschlag verabschiedete sich der Thüringer Parlamentarismus in die Sommerpause. AfD-Rechtsaußen Björn Höcke hatte den Ministerpräsidenten Bodo Ramelow per konstruktivem Misstrauensvotum zum Duell gefordert und scheiterte klar und doch erwartbar. Warum das alles? Dieses Manöver der AfD Thüringen zielte weniger auf die Krönung eines neuen Königs, als auf die Verächtlichmachung des Thüringer Landtags. Wenn sich das hohe Haus nur oft genug blamiert, so die hellblaue Hoffnung, steigen die eigenen Wahlchancen. Dass sich die demokratischen Parteien, über den Umgang mit dieser AfD, rettungslos zerstreiten und kaum noch zueinanderfinden, ist eine kostenlose Zugabe, die nur zu gern angenommen wird.

Der machtpolitischen Bedeutung der Nicht-Auflösung des Landtages hat sich Volker Hinck gewidmet[1] und in seinem Fazit die Frage aufgeworfen, ob der AfD durch die Nicht-Auflösung des Landtages nicht mehr Macht zugesprochen worden sei, als sie eigentlich habe. Die Frage lohnt noch einmal aufgegriffen zu werden, weil die Auswirkungen so vielfältig sind.

Zunächst muss einmal festgehalten werden, dass die Stimmen von LINKEN, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU und FDP zur Auflösung des Thüringer Landtages komfortabel gereicht hätten. Doch vier Abgeordnete der CDU erklärten, nicht für die Neuwahlen stimmen zu wollen. Es funktioniere aktuell ja ganz gut und außerdem sei ja sowieso kein Wahlergebnis mit klareren Mehrheiten zu erwarten. So ging der Blick in Richtung der FDP, die bis dato kein Teil der Stabilitätsvereinbarungen war. Als die FDP um Kemmerich dann Enthaltung signalisierte, wurde die Befürchtung, mit den Falschen das Richtige zu tun, langsam zur Gewissheit und der Antrag auf Auflösung nach Beratung der rot-rot-grünen Fraktionen zurückgezogen. Das sich jetzt eine der beteiligten Parteien öffentlich als letzte echte Verfechterin der Neuwahlen geriert, gibt schon einmal einen Vorgeschmack auf die Zerrkräfte der Zukunft.

Der LINKE-Fraktionsvorsitzende, Steffen Dittes, hat die Rücknahme seiner Unterschrift damit begründet, dass dem Tabubruch (Wahl von Kemmerich zum MP) sonst der Dammbruch (Auflösung mit Stimmen der AfD) gefolgt wäre[2]. Diesem Hinweis kann man sich nicht verschließen, denn notwendige Stimmen der AfD in der Abstimmung zur Auflösung hätten die Arbeit des Parlaments und die dann folgende Regierungsbildung auf Jahre verändert. Alle derzeitigen Umfragen sprechen für ein ähnliches Wahlergebnis wie 2019. Alles was CDU und FDP brauchen ist ein Vorwand, die Stimmen der AfD dann doch hin und wieder nutzen zu „dürfen“. Natürlich kann jetzt argumentiert werden, dass die AfD die anderen Parteien am Nasenring durch die Manege geführt habe und dieser Eindruck ist auch nicht falsch. Der Grund dafür lag aber nicht in der Stärke der AfD, sondern der Schwäche der demokratischen Parteien, gemeinsam dem Einflussversuch der AfD entgegenzutreten. Die AfD wird ihre taktischen Spielchen fortsetzen, an ihrer Antwort müssen sich LINKE, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU und FDP messen lassen.

Gerade hat es sich der bläulichbraune Elefant AfD, an dem niemand vorbeikommt, im Plenarsaal ziemlich bequem gemacht. Für die Frage der Handlungsfähigkeit der demokratischen Parteien im Thüringer Landtag wird die Frage des Umgangs mit den Stimmen der AfD die wichtigste machtpolitische und strategische Frage der nächsten Monate und Jahre. Wird es möglich sein, Dinge die mensch möchte auch dann zu beschließen, wenn die AfD sie zufälligerweise oder aus taktischen Gründen unterstützt? Die Haushaltsverhandlungen werden einen ersten Vorgeschmack auf die wo möglich kommenden drei Jahre geben.

Anders als bei dem Antrag auf Auflösung des Landtages braucht es für die Verabschiedung der Haushalte keine Zwei-Drittel-Mehrheit, es reichen mehr Ja- als Nein-Stimmen. Die AfD kann also ausgeklammert werden, denn ernsthafte Mehrheiten will niemand mit der AfD suchen, versichern die fünf übrigen Parteien ständig. In der Mittwochsausgabe der Thüringischen Landeszeitung warb Ministerpräsident Bodo Ramelow schonmal für einen neuen Blick nach der Sommerpause: »Wenn man sich im Herbst gemeinsam aufmachen will, ernsthaft das Projekt „Wechselnde Mehrheiten im Landtag“ starten zu wollen, braucht man keine Vereinbarungen, Verträge und Sicherheitsabkommen. Wir müssen weg davon, uns wechselseitig immer wieder zu misstrauen. Ich werbe für einen gemeinsamen Perspektivwechsel.[3]

Mario Voigt, Vorsitzender der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag, hatte bereits angekündigt, mit seiner Abgeordnetengruppe für eine formalisierte Zusammenarbeit a la Stabilitätsmechanismus 1 und 2.0 nicht mehr zur Verfügung stehen zu wollen und mir r2g nur noch über Einzelthemen zu reden. Doch die Fraktion ist sich uneins, die Fliehkräfte sind stark und Mario Voigt ist nicht zu beneiden. Die Taktik, mal Vorhaben der rot-rot-grünen Landesregierung als »Ideologieprojekte« zu betiteln und andere als eigene Ideen zu kapern, nutzt sich schnell ab und wird von den Wählerinnen und Wählern mal früher, mal später durchschaut. Das wird auch in den Umfragen immer wieder deutlich, denn das Abarbeiten an r2g mit der groben Axt bringt keine Punkte. Wie festgeklebt steht die CDU bei 21 Prozent und Mario Voigt landet als Oppositionsführer auf der Beliebtheitsskala noch hinter Anja Siegesmund, Thomas L. Kemmerich und Georg Maier.[4] Wirft man einen Blick in andere Bundeländer, scheint sich der Eindruck aus Thüringen durch Wiederholung zu bestätigen: Die Rolle der Opposition liegt der CDU nicht, deren Handeln immer auf Machtausbau und Ämteranhäufung ausgerichtet ist.

Wenn sich der Staub des Bundestagswahlkampfes gelegt hat, wird sich zeigen, wo die CDU in Thüringen steht. Ob den Reden zur AfD Taten folgen, oder die Unterstützung der AfD stillschweigend hingenommen wird. Die CDU hat dabei das Problem, das jeder Journalist in Ost wie West auf unser kleines Bundesland eingeschrieben ist. Thüringen wurde zum Musterbeispiel für die mangelnde Abgrenzung nach rechts. Die Kemmerich-Wahl durch Stimmen von AfD, FDP und CDU und die Aufstellung des Hans-Georg-Maaßen reichen als Beweise, »case closed«. Und wenn sich der ehemalige Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz dann hinstellt und den allseits beliebten Ramelow als »Kommunisten« betitelt, der übrigens der gleiche ist, mit dem seine Parteifreunde in Erfurt über den Haushalt verhandeln wollen, ist zum innerparteilichen Zustand der „Thüringen-Partei“ eigentlich alles gesagt.

Zurücklehnen? Nein! Die notwendigen Verständigungen mit der CDU-Fraktion und den Abgeordneten der FDP werden zur Herausforderung. Viele Verhandlungspartner erwecken grundsätzlich immer die unschöne Assoziation teurer Kompromisse, diese Vorahnung – berechtigt oder nicht – sollte jedoch kein Grund sein, sich unter dem nächsten Stein zu verkriechen. Die Emanzipation der einzelnen Koalitionspartner, die jetzt schon sichtbar ist, wird sich in Zukunft verstärken, ist jedoch so lange unproblematisch, wie sie sich nicht in Landesregierung und Kernkabinett fortpflanzt.

DIE LINKE. Thüringen hat u.a. mit ihrem Bestreben nach Bildungsgerechtigkeit, im ersten Schritt durch beitragsfreie KiGa-Jahre, 2019 ihren bis dato erfolgreichsten Landtagswahlkampf geführt und braucht die Haushaltsverhandlungen nicht zu fürchten. Denn möchte eine Partei den Rotstift zuerst bei Kindern und Familien ansetzen, muss sie das den Thüringerinnen und Thüringern erklären.

Eine Herausforderung wird vielmehr die breite und inhaltstiefe Kommunikation mit der Partei selbst und den Bürgerinnen und Bürgern sein. Um klar zu machen, wer für welche Kürzung im Haushalt in Haftung zu nehmen ist. Der Thüringer Weg zeichnet sich, trotz aller Zuspitzungen in den Medien, vor allem durch seine Unaufgeregtheit aus. Setzen wir ihn ohne Stimmen der AfD fort. Thüringen war schon einmal in den 1920er Jahren falscher Vorreiter, als sich der völkischen Ideologie nicht eindeutig und gemeinsam entgegengestellt wurde.

Der gesellschaftliche Widerstand, der dem Dammbruch durch die Wahl von Kemmerich folgte, war immens. Mahnender Begleiter einer langsam erodierenden Brandmauer zu sein, ist ungleich ermüdender. Auch die Stimmung auf der Straße unterliegt konjunkturellen Wellen und braucht Auslöser, die im täglichen Parlamentsbetrieb schnell unterzugehen drohen.