Es gibt zwei Pole in den Debatten um das Verhältnis der Linken zu den Juden. Auf der einen Seite stehen Autor*innen wie Edmund Silberner, die nicht nur deren Judenfeindschaft beklagen, sondern eine Wertschätzung des Jüdischen zum moralischen Maßstab ihrer meist vernichtenden Kritik an der Linken machen. Andere, wie Mario Keßler im vorliegenden Band, liegen mit ihren Bewertungskriterien etwas näher am traditionellen linken Assimilationskonzept. Sie gehen eher von antisemitischen oder antisemitisch gefärbten Auswüchsen in der Geschichte der DDR aus, ohne diese zu einem konstitutiven Moment zu erklären. Dies bringt interessante Schattierungen in die Debatte, in der über faktische Entwicklungen relative Einmütigkeit herrscht.
Während zum Beispiel allgemein konstatiert wird, dass in der DDR lebende Jüdinnen und Juden als Feigenblatt für die antizionistische Politik der SED herzuhalten hatten, unter anderem durch die Abgabe von demonstrativ israelfeindlichen Erklärungen, weist Keßler auch darauf hin, dass denen, die sich dieser Strategie entzogen haben (verschiedenen Stellungsnahmen sind im Buch zu finden), kein Nachteil entstanden ist. Von diesem Standpunkt aus analysiert und kritisiert er in diesem Buch auch die düsteren Aspekte der SED-Politik gegenüber Jüdinnen und Juden von der Gründung der DDR bis zum Jahr 1967.
Keßler unterscheidet eine Aufbruchsphase, in der sich viele Jüdinnen und Juden bewusst für den antifaschistischen Osten Deutschlands entschieden und sogar wichtige SED-Führer wie Wilhelm Pieck sich (selbst-)kritisch zum Versagen der deutschen Arbeiter/innen(bewegung) geäußert hätten, von einer Phase der Diskriminierung und Repression in den Jahren 1952/1953 und einem anschließenden Pendeln wieder in Richtung mehr Toleranz – deren Ausmaß die SED-Führung bestimmt habe.
Für die repressive Phase gibt es Kessler zufolge verschiedene Ursachen. Schon Ende der 1940er Jahre wurde der klare antifaschistische Kurs zugunsten eines national-patriotischen aufgeweicht; die Repression ist also im Kontext der sozialistischen Nationenwerdung zu verorten. In diese Phase fällt zum Beispiel die Unterscheidung zwischen den (oftmals jüdischen) «Opfern» des Nationalsozialismus und den (mehrheitlich kommunistischen) «Kämpfern» gegen den Faschismus. Dabei kamen alle anerkannten Opfergruppen in den Genuss von Vergünstigungen, die sie angesichts ihres Leidensweges gegenüber der verstrickten oder mitgelaufenen Normalbevölkerung besserstellten. Doch der Opferstatus der «rassisch Verfolgten» musste von diesen zunächst erkämpft werden und beinhaltete beispielsweise nicht die Ehrenpension der «Kämpfer».
Außerdem sieht Keßler in den Schauprozessen und Parteisäuberungen nach der aus der Sowjetunion kommenden «antizionistischen Wende» von 1950 einen «Zweckantisemitismus Stalins», der zur Flucht vieler Jüdinnen und Juden aus der DDR führte. Er betont also die Rolle des Antisemitismus in der parteiinternen Auseinandersetzung, in deren Verlauf sich die aus Moskau zurückgekehrte Ulbricht-Gruppe gegen innerparteiliche Konkurrenten insbesondere der Westemigration durchsetze und sich dazu unter anderem des Antisemitismus bediente. Ausführlich wird der «Fall Merker» dargestellt, ein für die DDR geplanter Schauprozess gegen ein Politbüromitglied, das sich beispielsweise für Restitution jüdischen Eigentums eingesetzt hatte. Im Rahmen der antizionistischen Kampagnen waren «Jüdischsein» und Kontakte zu jüdischen Organisationen schon zu hinreichenden Verdachtsmomenten geworden.
Auch in der Zeit nach Stalins Tod kam es – trotz eines gelockerten Verhältnisses zum Judentum (beispielsweise durch eine größere literarische Repräsentation) – weiterhin zu Spannungen. Die SED erwies sich als unfähig, «die vielschichtige Problematik jüdischer Existenz in Deutschland wie in Israel genügend wahrzunehmen», was sich nicht zuletzt in einer aggressiven Einseitigkeit bei der Wahrnehmung des Nahostkonfliktes zeigte. Um nur ein Beispiel zu nennen: Walter Ulbricht bezeichnete Israel in den 1960er Jahren als «gegen die Rechte des arabischen Volkes gerichtete […] Speerspitze» des Imperialismus, während er an den «arabischen Völkern» keinerlei Kritik übte. Insgesamt aber, so die Einschätzung von Keßler, sei die Politik der SED/DDR gegenüber den Jüdinnen und Juden deutlich gemäßigter ausgefallen als die von Regierungen anderer «Volksdemokratien», beispielsweise der Volksrepublik Polen.
Der informative Anhang des Buches enthält wichtige Dokumente und Kurzbiografien von bekannten jüdischen DDR-Bürger*innen.
Keßler, Mario (1995): Die SED und die Juden. Zwischen Repression und Toleranz. Politische Entwicklungen bis 1967, Berlin 1995: Akademie-Verlag.