Der Fachkräftemangel in Deutschland ist eine omnipräsente Debatte. Einer der am härtesten durch Personalnot geplagten Sektoren ist die Pflege. Schon seit mehreren Jahren rekrutiert die Bundesregierung deshalb unter dem Triple Win Programm Pflegekräfte aus Ländern wie den Philippinen, Vietnam oder Tunesien. Seit Ende 2021 besteht eine solche Kooperation nun auch mit dem südindischen Bundesstaat Kerala. Das Programm verspricht Nachhaltigkeit, Fairness und soll Vorteile für alle Beteiligten bringen.
Doch ist dem so? Wessen Interessen wiegen hier am meisten? Wie erleben migrierte Pfleger*innen ihre deutschen Arbeitsplätze? Was ist die politische Ökonomie des Programms? Zu diesen Fragen sprach Max Schmidt für das Südasienbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Christa Wichterich, Santosh Mahindrakar und Shweta Marathe.
Max Schmidt ist Masterstudent der Politikwissenschaft und war im Sommer 2023 Praktikant im Regionalbüro Südasien der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Delhi. Er beschäftigte sich in dieser Zeit mit Gesundheitsökonomie, Entwicklungspolitik und informeller Arbeit.
Wie der Name des Programms suggeriert, verspricht man sich einen dreifachen Gewinn. Nicht nur für Deutschland, sondern ebenfalls für die betreffenden Herkunftsstaaten. Durch Geldsendungen der migrierten Pflegekräfte hofft man entwicklungspolitische Impulse in deren Heimatländern anzustoßen. Daher gilt Triple Win auch als ein Entwicklungsprogramm.
In Kerala herrscht Druck auf dem Arbeitsmarkt: Hohe Arbeitslosigkeit unter Pflegekräften – besonders in der jüngeren Bevölkerung. Auch hier möchte Triple Win anknüpfen. Den indischen Arbeitsmarkt entlasten, indem man Pfleger*innen nach Deutschland holt und gleichzeitig den Fachkräftemangel bekämpft.
200 Inder*innen wurden in 2022 bereits nach Deutschland rekrutiert. Auf Anfrage der TAZ gibt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales an, dass sich 325 weitere Personen derzeit im Bewerberpool befinden. Bis 2024 rechnet man mit ca. 1000 Pflegekräften. Kosten für Deutschkurse in Indien werden übernommen. Die Arbeitgeber*innen sollen in Deutschland außerdem Wohnraum zur Verfügung stellen.
Beteiligte deutsche Organisationen sind die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ), das Goethe-Institut in Kerala und die Bundesagentur für Arbeit. Die GIZ stellt ihre internationalen Ressourcen zur Verfügung, koordiniert etwa die Ausreise oder organisiert Integrations- und Sprachkurse. Die Bundesagentur für Arbeit berät hingegen deutsche Arbeitgeber*innen oder schließt Vermittlungsabsprachen mit den Arbeitsverwaltungen der Partnerländer. Von indischer Seite ist die Behörde Norka Roots aus Kerala in die Auswahl- und Bewerbungsprozesse involviert.
Essenziell für Triple Win ist das Prinzip einer «nachhaltig ausgerichteten Gewinnung von Pflegekräften». Dies erfülle man aus Sicht der Bundesagentur zunächst durch faire Arbeitsbedingungen, eine gleichwertige Bezahlung und insbesondere durch die Kooperation mit Partnerländern, in denen ohnehin ein Überschuss an ausgebildeten Pflegekräften bestünde. Zudem würden die rekrutierten Pfleger*innen persönlich wachsen können und ihre Fertigkeiten erweitern. Letztere könnten schließlich einen sog. Care Gain – einen Wissenstransfer in die Heimatländer – befördern.
Die Rekrutierung von Pflegekräften nach Deutschland, oder: Krise sozialer Reproduktion
Der Zustand der Gesundheitsversorgung ist in Deutschland längst ein Politikum geworden.
Die repräsentative Beschäftigtenbefragung Index Gute Arbeit des Deutschen Gewerkschaftsbunds quantifiziert etwa für die Zeiträume 2012 bis 2017 und 2018 bis 2022 einen immensen Arbeitsdruck unter Pflegebeschäftigten. 75 Prozent der Befragten in Kranken- und 67 Prozent in Altenpflege gaben darin an, sich nicht bis zur Rente in dem Beruf zu sehen. Noch deutlicher wird die Potentialanalyse «Ich pflege wieder, wenn ...» der Hans Böckler Stiftung. Rund 300 000 Pfleger*innen würden unter verbesserten Bedingungen wieder in den Beruf zurückkehren.
In den letzten Jahren machten Krankenhausbeschäftigte ihrem Ärger in Tarifbewegungen Luft. Mit ihren Forderungen zeigten sie dabei auf die Versorgungslücken im Gesundheitssystem und die desolaten Zustände an ihren Arbeitsplätzen.
Christa Wichterich bezeichnet jene Zustände als eine Krise sozialer Reproduktion. Dies zeige sich darin, dass Tätigkeiten, die unser System aufrechterhalten, wie etwa Kinderbetreuung oder Gesundheitsversorgung, wegen Personalmangel und schlechter Qualität nicht mehr gewährleistet werden könnten. Die Gründe dafür sieht sie u. a. in einem «Gesundheitswesen, das die Versorgung auf Effizienz und Produktivität ausrichtet». Dies sei ein fundamentaler Widerspruch, da man qualitative Gesundheitsfürsorge nicht durch und durch rationalisieren könne.
Die Tarifbewegungen zeigten wichtige Erfolge auf, fährt Wichterich fort. Allerdings wäre der geforderte Systemwechsel nach wirklicher Entlastung und Aufwertung der Berufe noch weit entfernt. Auch wenn man Abhilfe leisten könnte, z. B. durch flächendeckend vernünftige Bezahlung, gute Ausbildungen oder attraktive Bedingungen auch außerhalb kommunaler Kliniken, würde dieser Weg einfach nicht gegangen.
All das spielt für Triple Win jedoch keine Rolle. Stattdessen bezieht man sich vollends auf den demografischen Wandel und die sich daraus ergebenden Konflikte aus erhöhtem Pflegebedarf bei gleichzeitigem Fachkräftemangel. Diese Analyse ist indes nur eine Seite der Medaille. Sie offenbart vielmehr die politische Stoßrichtung des Programms: In betriebswirtschaftlicher Manier denkt man das Problem im deutschen Gesundheitswesen lediglich vonseiten fehlender Personalressourcen und des wachsenden Bedarfs.
Migration aus Kerala: Motive, Effekte und Geschichte
Bereits in den 1960er/70er Jahren kamen junge Inder*innen aus Kerala nach Deutschland um im Gesundheitswesen einen Arbeitsplatz zu finden. Die Rekrutierung von Pflegekräften aus diesem Teil Indiens hat demnach Geschichte – schon lange vor Triple Win, wie Wichterich meint. Damals war die Migration jedoch nicht durch den Staat organisiert, sondern durch katholische Netzwerke. Parallelen gebe es aber zum Personaldefizit in Gesundheitseinrichtungen, dem man mit Einwanderung entgegenwirken wollte. Daher habe sich Wichterich zufolge an der Grundlogik, Ressourcen «für unsere Systeme von woandersher abzuziehen» wenig geändert.
Dass Deutschland nun aus Kerala Pflegekräfte anwirbt, trifft auf bestimmte – günstige – Vorbedingungen, sagt Wichterich. Denn Kerala würde im nationalen Vergleich mit einer besonders guten Ausbildungsqualität glänzen. Das stellt auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) heraus: Die Alphabetisierungsrate liegt mit 94 Prozent knapp 20 Prozentpunkte über dem nationalen Schnitt. Die Etablierung eines qualitativen Bildungssystems im Bundestaat sind für die WHO ein Zeichen jahrelanger Verpflichtung zu sozialer Entwicklung.
Trotzdessen sind die Anreize für junge Pfleger*innen in Kerala zu bleiben bescheiden, bestätigen Wichterich und WHO. Insbesondere ökonomische Faktoren kommen hier zum Tragen. Die niedrigen Löhne würden oft nicht reichen, um die für private Hochschulen aufgenommenen Kredite zurückzuzahlen. Hinzukomme, so Wichterich, die Abwertung des Pflegeberufs besonders in den zahlreichen privaten Kliniken, wo hohe Belastung mit besonders schlechter Bezahlung einhergingen. Viele Pflegekräfte würden so die Entscheidung treffen, ins Ausland zu gehen: «Kerala hat in den letzten Jahrzehnten eine richtige Migrationskultur entwickelt», führt Wichterich aus. Neben individuellen Lebensentscheidungen sehe man das auch an der wachsenden Zahl privater Pflegehochschulen, die häufig bereits eine auf die Arbeit im Ausland ausgerichtete Ausbildung anbieten – quasi «exportorientiert». Es würden Inhalte vermittelt, die in den Zielländern gebraucht werden.
Das indische Gesundheitssystem: Zwischen Unterfinanzierung und Pflegemangel
Grundlage für die Pflegemigration ist für Wichterich ein massives globales Ungleichheitssystem, das Länder wie Deutschland erst attraktiv macht. Den Abzug von Gesundheitsfachkräften beschreibt sie als einen «Care-Extraktivismus». Man denke relativ wenig darüber nach was die Rekrutierung konkret für indische Sorge-Systeme – etwa Haushalte, Familiennetzwerke oder Krankenhäuser – heißt. Das gesamtindische Gesundheitssystem stehe im direkten Vergleich mit Kerala aber auch international weniger gut da. Dass man von dort nun Gesundheitsarbeiter*innen abziehe, findet sie schwer zu rechtfertigen. Es gehe lediglich um das Interesse günstige Ressourcen zu extrahieren, meint sie.
Das indische Gesundheitssystem weist in der Tat eklatante Lücken auf. Ungefähr 70 Prozent der Gesundheitsversorgung im Land werden durch private Einrichtungen abgedeckt. Schätzungen zufolge treiben unbezahlbare Kosten für private Gesundheitsversorgung ca. 55 Millionen Menschen jährlich in die Armut. Demgegenüber steht ein unterfinanziertes öffentliches Gesundheitswesen. Rund 2.1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gibt der Staat für die Gesundheitsversorgung aus. Im BRICS-Vergleich liegt Indien damit auf dem letzten Platz. Dabei offenbarten vor allem die heftigen Coronawellen 2020 und 2021 die unzureichende Versorgungslage im Land: Während private Einrichtungen sich die Notsituation zunutze machten und irrsinnige Abrechnungen an Patient:innen stellten, konnten öffentliche Gesundheitsstrukturen dem Versorgungsbedarf nicht gerecht werden.
Indische Staaten wie Goa, Uttar Pradesh oder Bihar erleben ein substantielles Personaldefizit in der Pflege. Wenngleich Pfleger*innen aus Kerala schon in vielen indischen Landesteilen arbeiten, bräuchte es eine stärkere Binnenrekrutierung, erläutert Shweta Marathe. Dafür müssten sich Arbeitsbedingungen und Einstellungspraktiken jedoch drastisch ändern. Gegenwärtig wären diese zunehmend durch flexibilisierte Vertragsmodelle und kurzfristige Beschäftigung geprägt. Besonders Pfleger*innen und junge Ärzt*innen litten darunter.
Widersprüche und soziale Realität
Dreh- und Angelpunkt des Triple Win-Versprechens sind scheinbar faire Bedingungen für Leben und Arbeit in Deutschland. Außerdem sollen positive volkswirtschaftliche Effekte für die Partnerländer durch Rücküberweisungen der Pfleger*innen zum Tragen kommen.
Triple Win wirbt mit umfangreicher Betreuung – besonders beim etwa zwölfmonatigen Anerkennungsprozess. Dabei müssen die Migrant*innen in Deutschland ein Verfahren durchlaufen, das sie auf die Pflegetätigkeit vorbereitet. Am Ende steht eine Prüfung. Erst dann gilt man als vollwertige Pfleger*in. Während dieser Zeit wird man allerdings lediglich als Pflegehilfe bezahlt, kritisiert Santosh Mahindrakar – auch wenn man eine mehrjährige Arbeitserfahrung aus dem Heimatland vorweist. Das impliziert einen Bruttoverlust von ca. 800 Euro pro Monat. Erst nach erfolgreichem Abschluss des Anerkennungsverfahrens werden die höheren Tariflöhne gezahlt. Diese Tatsache empfindet er zurecht als unfair. Generell wäre der gesamte Prozess eine schwierige Zeit, beschreibt Mahindrakar. Oft dauere er länger als zwölf Monate. Ein persönliches Unterstützungsnetzwerk am neuen Arbeitsplatz ist dabei äußerst wichtig. Bleibt dieses aus, stehe man massiv unter Druck.
Am Arbeitsplatz selbst entstünden dann nochmal ganz neue Hürden für migrierte Pfleger*innen, sagt Mahindrakar. Er unterstreicht insbesondere die Schichtzuteilung. Diese spiegele eine gewisse Hierarchie wider – zum Nachteil für Migrant*innen. Man würde häufig auf Stationen eingesetzt, die bei der Stammbelegschaft unbeliebt wären. Dies wirke sich dann wiederum negativ auf tarifierte Zuschläge oder Möglichkeiten für Freizeitausgleich aus. Man könne so schnell eine Menge Geld verlieren.
Die entwicklungspolitische Bedeutung persönlicher Rücküberweisungen – laut Weltbank immerhin ca. 3,3 Prozent des indischen BIP – sollte man ebenfalls nicht überhöhen, ordnet Mahindrakar ein. Denn bis zur Anerkennung als vollwertige Pflegekraft erlebe man eine Menge Verluste: Die Schulden durch das meist an Privatschulen absolvierte Pflegestudium, die schlechter bezahlte Beschäftigung als Pflegehilfskraft nach Ankunft in Deutschland und die Anforderung einer zweijährigen Arbeitserfahrung im Heimatland. Letzteres machen sich speziell private Kliniken in Indien zunutze, indem sie die Zertifizierung der Arbeitserfahrung als Verhandlungsmasse nutzen, um ohnehin schon schlechte Gehälter noch weiter zu drücken. Zusammengenommen stehe dies oft in keinem Verhältnis zu den Erträgen der Rücküberweisungen.
Jene Punkte sind für eine kritische Betrachtung von großer Bedeutung. Schließlich ist vom «Win» der eingesparten Ausbildungskosten keine Rede in den gelisteten Vorteilen des Programms. In einer kleinen Anfrage (2020) konfrontiert, meint die Bundesregierung lediglich, dass volkswirtschaftliche Kosten der Herkunftsländer durch die Entwicklungseffekte ausgeglichen werden. Kompensationszahlungen für Ausbildungskosten zahle man nicht.
Nachhaltigkeit und Transparenz ernst nehmen!
Die Abwerbung von Pflegekräften weist starke Widersprüche auf. Dennoch argumentiert Santosh Mahindrakar dafür die Pflegemigration nicht zu stoppen. Er denkt besonders an die privaten Investitionen, die indische Pfleger*innen und ihre Familien für die Ausbildung mit der Perspektive im Ausland zu arbeiten aufbringen. Daher hätten die reichen Industriestaaten eine Verantwortung ihnengegenüber. Langfristig solle man sicherstellen, dass Ausbildungskosten grundsätzlich durch deutsche Arbeitgeber*innen übernommen würden.
Triple Win verpflichtet sich dem Prinzip der Nachhaltigkeit. Als Entwicklungsprogramm ist es daher mit den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen verbunden. Darin verpflichtet sich die internationale Staatengemeinschaft u. a. dazu Bindung, Rekrutierung und Ausbildung von Gesundheitspersonal in Entwicklungsländern substantiell zu verbessern. Besonders mit Blick auf die Gesundheitssituation in Indien lässt sich dies für Triple Win mit einem Fragezeichen versehen, findet auch Christa Wichterich. Anders als Nachhaltigkeit stehen für sie polit-ökonomische Interessen im Zentrum des Programms. Triple Win spreche lediglich den Wunsch nach individueller Lebensplanung sehr gut an.
Laut WHO-Kodex zur Rekrutierung von Gesundheitsarbeiter*innen, müssen ebenfalls Vorteile für das indische Gesundheitssystem durch die Abwanderung entstehen. Um dieses zu stärken, sollte es Ziel nachhaltiger Entwicklungsarbeit sein, einen landesweiten Ausbau und attraktive Arbeitsbedingungen durch gute Bezahlung und demokratische Beteiligung der Beschäftigten in indischen Krankenhäusern zu fördern. Dazu gehört es auch Investitionen deutscher Entwicklungsbanken in den ohnehin schon immensen privaten Gesundheitssektor mit seinen berüchtigt schlechten Arbeitsbedingungen zu regulieren. Grundlage für die Anwerbung von Pfleger*innen dürfen schließlich nicht prekäre Zustände im Heimatland sein.
Bisher zeichnet sich Triple Win durch Intransparenz aus. Es gibt kaum öffentlich zugängliche Daten, über die konkreten Entwicklungseffekte oder die Erfahrungen migrierter Pfleger*innen. Dementsprechend braucht es dringend eine unabhängige Evaluierung des Programms.
Die Gesprächspartner*innen
Dr. Christa Wichterich ist Soziologin und Vertrauensdozentin der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie unterrichtete u. a. an der Jawaharlal-Nehru-Universität in Neu-Delhi und als Gastprofessorin für Geschlechterpolitik in Kassel. Ihre Schwerpunkte sind transnationale Care-Arbeit, Krankenhaussysteme in Indien und feministische politische Ökonomie.
Dr. Santosh Mahindrakar kommt aus dem südindischen Bundesstaat Karnataka. Er arbeitet seit 2018 als Krankenpfleger in einem öffentlichen Krankenhaus in Deutschland. Er ist in verschiedenen Netzwerken aktiv und arbeitet zur Rekrutierung von Pflegekräften aus dem Globalen Süden. In Indien studierte er Pflegewissenschaften und Public Health.
Shweta Marathe ist Wissenschaftlerin bei der Organisation SATHI (Support for Advocacy and Training to Health Initiatives) in Pune, Maharashtra. Sie forscht zu Public Health und dem privaten Gesundheitssektor in Indien.