Nachricht | Artikel von Michael Ebenau: Quo vadis Thüringen?

In der Ausgabe der Zeitschrift Sozialismus 7/8 2024 ist eine aktuelle Einschätzung unseres Vorstandsmitglieds Michael Ebenau über die Thüringer Situation im Wahljahr 2024 erschienen. Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift Sozialismus dokumentieren wir diesen Artikel auf unserer Webseite.

In der Ausgabe der Zeitschrift Sozialismus 7/8 2024 ist eine aktuelle Einschätzung unseres Vorstandsmitglieds Michael Ebenau über die Thüringer Situation im Wahljahr 2024 erschienen.

Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift Sozialismus dokumentieren wir diesen Artikel auf unserer Webseite.

Quo vadis Thüringen?

Die Ausgangslage

Seit 2014 bilden DIE LINKE, SPD und Bündnis 90/Die Grünen (r2g) die Landesregierung in Thüringen, zuvor hatten fast 25 Jahre lang Ministerpräsident*innen der CDU regiert. Dies entspricht, in politischen Lagern gedacht, seit fünfzehn Jahren nicht mehr den Mehrheitsverhältnissen: r2g hatte ab 2009 über zehn Jahre hinweg eine parlamentarische Mehrheit, die stabilste mit 51 von 88 Landtagsmandaten von 2009 bis 2014. Diese Chance wurde nicht genutzt, weil sich eine Mehrheit in der SPD für eine Koalition mit der CDU entschied. Die Bildung einer gemeinsamen Regierung gelang erst 2014 mit nur noch einer Stimme Mehrheit im Parlament. Umgedreht erzielten CDU, FDP und AfD 2019 eine rechnerische Mehrheit, die gemeinsame Wahl Thomas Kemmerichs (FDP) zum Ministerpräsidenten führte jedoch zu massiven regionalen und überregionalen Protesten und Interventionen. Kemmerich trat schnell zurück, es folgte die Bildung der rot-rot-grünen Minderheitsregierung unter zeitweiliger Duldung der CDU. Regierungsbildungen waren in Thüringen zuletzt also stets fragil, darauf scheint es auch im Herbst 2024 hinauszulaufen.

Stimmungslagen

Im Frühjahr 2024 legte die Friedrich-Ebert-Stiftung eine Untersuchung vor, in der die Lebenszufriedenheit und die dominierenden politischen Themen in Thüringen untersucht wurden.[1] Auf die Frage nach den aktuell wichtigsten landespolitischen Problemen nannten 57,2% der Befragten Migration/Zuwanderung/Asyl vor der Bildungspolitik mit 35,6% und der Sicherheit im öffentlichen Raum mit 24,1%, Gesundheitsversorgung (22,7%) und wirtschaftliche Entwicklung/Konjunktur (22,5%) folgten. Als weniger problematisch wurden die Themen Verkehr (12%), Klima- und Umweltschutz (7,4%) sowie Familie (5,2%) bewertet.[2] Dabei unterschieden sich die Altersgruppen teils deutlich. Jüngere Befragte problematisierten die Themen Migration/Zuwanderung/Asyl mit 64,2%, Verkehr mit 34,5% sowie die Sicherheit im öffentlichen Raum mit 29,8% sichtbar stärker.[3]

Sozialökonomische Merkmale Thüringens

Zwischen 1990 und 2022 ist die Zahl der Einwohner*innen Thüringens um fast 500.000 auf 2,13 Millionen gesunken. Bis 2042 wird ein Rückgang um weitere 200.000 prognostiziert, wobei die Wirkungen globaler Fluchtbewegungen die Prognosen schwieriger machen. Thüringen weist eine ausgeprägte ländliche und kleinstädtische Struktur auf: Mit Erfurt und Jena gibt es nur zwei Städte mit mehr als 100.000 Einwohner*innen, zwei weitere (Gera und Weimar) zählen über 50.000. Sie alle liegen entlang der Autobahn A4 und bilden mit Gotha und Eisenach die »Thüringer Städtekette«, an der auch ein großer Teil der Industrie angesiedelt ist. Mit Ausnahme von Erfurt, Weimar und Jena wird für alle Städte und Landkreise ein weiterer, teils drastischer Rückgang der Bevölkerungszahl erwartet, verbunden mit einer weiteren Erhöhung des Durchschnittsalters: Bis 2042 wird der Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter von 56% auf 52,8% sinken.[4] Der erwartete Bevölkerungsrückgang betrifft vor allem den Süden und Südosten des Freistaates: Hildburghausen, Sonneberg, Saalfeld-Rudolstadt und den Saale-Orla-Kreis. Diese Regionen werden uns im vorliegenden Beitrag noch öfter begegnen.

In vielen Beiträgen zur politischen Entwicklung in Thüringen fehlt der Blick dafür, dass das Land ein wichtiger Industriestandort ist. Nach der Deindustrialisierung zu Beginn der 1990er Jahre kann inzwischen von einer regelrechten Re-Industrialisierung gesprochen werden, obwohl in den 2010er-Jahren die gerade erst entstandene Solarindustrie mit mehreren Tausend Arbeitsplätzen schnell wieder verschwand. Aktuell wird knapp ein Viertel der Bruttowertschöpfung trotzdem in der Industrie erwirtschaftet. Gewandelt hat sich damit auch die Lage auf dem Arbeitsmarkt: Thüringen zählt etwa 790.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, die Arbeitslosenquote bewegt sich im bundesweiten Durchschnitt. Eines der großen Zukunftsprobleme ist der schnell wachsende Fachkräftemangel. Festzuhalten ist aber auch, dass 18,4% der Thüringer*innen nach einer Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes als arm gelten, die Quote liegt etwa zwei Prozentpunkte über dem Bundesschnitt.[5] Das ist einer geringen Tarifbindung, daher oft niedrigen Einkommen und geringen Renten geschuldet.

In der Industriestruktur dominiert die Automobil- und Zulieferindustrie mit etwa 65.000 Beschäftigten, es folgt die Lebensmittelindustrie mit knapp 25.000 Arbeitsplätzen, mehr als 16.000 Menschen sind in der optoelektronischen Industrie mit Schwerpunkt in und um Jena tätig. Gerade in der Automobil- und Zulieferindustrie sind gravierende strukturelle Defizite erkennbar: Sie besteht im Wesentlichen aus kleinteiligen verlängerten Werkbänken deutscher und internationaler Konzerne. Eigenständige, finanzstarke und entscheidungsbefugte Unternehmen fehlen, betriebliche Forschungs- und Entwicklungskapazitäten ebenso. Entscheidungen über Investitionen, die strategische Ausrichtung oder auch über Personalabbau und Standortschließungen werden in aller Regel außerhalb und zulasten Thüringens getroffen. Davon sind Thüringer Standorte immer wieder betroffen, in der Automobil- und Zulieferindustrie wie auch in der Nahrungsmittelindustrie. Die IG Metall fordert seit Jahren wirksame Hilfen in der Transformation. Das Thüringer Wirtschaftsministerium gab und gibt sich demgegenüber optimistisch und beruft sich auf die Ergebnisse einer von ihm beauftragten Studie, die einen positiven Beschäftigungseffekt ankündigte, »der … bis 2025 und bis 2030 die aufgezeigten Beschäftigungsrisiken mehr als ausgleicht«.[6]

Immer wieder hat sich die Kritik der IG Metall seitdem als berechtigt erwiesen: Fast schon regelmäßig werden Standorte geschlossen und die Produktion in andere Staaten verlagert, auch wenn sie nicht in der Antriebstechnik tätig und somit eben nicht von der Umstellung auf E-Mobilität betroffen sind, sondern Fahrzeuginterieur oder -exterieur produzieren. Auch die Zahl der Insolvenzen hat wieder deutlich zugenommen. Nach wie vor lastet ein hoher Kostendruck auf den Zulieferbetrieben. Eine aktive Industriepolitik unter Einbeziehung der DGB-Gewerkschaften, wie von der IG Metall gefordert und in anderen Bundesländern praktiziert, hat sich in Thüringen jedenfalls trotz eines Jahrzehnts rot-rot-grüner Regierungen nicht entwickelt. Und auch die ab 2009 unter dem damaligen Wirtschaftsminister Matthias Machnig verfolgte Politik, die Rolle der Industriegewerkschaften in der Industrie- und Wirtschaftspolitik durch ihre Einbeziehung in Trialogformate zu stärken, wurde nach 2014 deutlich zurückgenommen. Etablierte Beteiligungsverfahren wurden stattdessen an das von der LINKEN-Ministerin Heike Werner geleitete Arbeitsministerium delegiert, von wo aus eine direkte Einflussnahme auf die Industriepolitik schwerlich möglich ist.[7]

Seit dem Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge im Jahr 2000 untersucht der »Thüringen-Monitor« alljährlich die politische Kultur, insbesondere die politischen Einstellungen, die Demokratiezufriedenheit, das Vertrauen in Institutionen und die politische Partizipation. Die Untersuchung für das Jahr 2022[8] belegt eine vor allem im ländlichen Raum niedrige Demokratieunterstützung. Demokratiegefährdende Einstellungen waren und sind dort stark vertreten. Das verbreitete Gefühl, von Bundes- und Landespolitik abgehängt zu werden, beschränkt sich nicht auf ländliche und periphere Regionen, ist hier aber noch einmal stärker ausgeprägt. Knapp 60% der Befragten klassifizierte der Monitor 2022 als populistisch, ohne aber in der Mehrheit rechtsextreme, ethnozentristische oder demokratieablehnende Positionen zu teilen: »Der einstellungsmäßige Populismus in Thüringen ist daher überwiegend nicht rechtspopulistisch, auch wenn eine Minderheit der Populist*innen rechtsextreme Einstellungen« teilt.[9]

Der diesjährige Bericht stellt heraus, dass es zwar nach wie vor eine hohe Zustimmung zur Demokratie »als bester Staatsidee« gibt, die Zufriedenheit mit der gegenwärtigen Demokratie aber zwischen 2020 und 2023 um 23 Prozentpunkte auf nunmehr 45% gefallen ist. In ähnlicher Weise hat sich das Vertrauen in die Regierungen reduziert: Nur noch 17% der befragten Thüringer*innen schenken der Bundesregierung ihr Vertrauen, ein knappes Drittel der Landesregierung: »Die Analysen zeigen, dass ein Mangel an wahrgenommener Responsivität, das Gefühl der Benachteiligung als Ostdeutsche*r sowie der Eindruck, keinen Einfluss auf das politische System nehmen zu können, die niedrige Demokratiezufriedenheit und das geringe Vertrauen in die Politik erklären.«[10] Der Anteil rechtsextremer Einstellungen ist mit 19% Prozent deutlich angestiegen und vorrangig mit ethnozentrischen Argumenten unterfüttert. Diese Zahl war in den Jahren der Pandemie rückläufig, ist nun aber wieder auf dem Durchschnittswert der Jahre 2007 bis 2019 angekommen.[11]

Aufschlussreich sind die Ergebnisse des aktuellen Monitors auch aus arbeitsweltlicher Perspektive: 80% der Befragten verspüren den Mangel an Fachkräften in ihrem Alltag, in ländlichen Gemeinden tritt das noch einmal deutlicher auf als in den (wenigen) Städten. Direkt am Arbeitsplatz fühlen sich 75% der Berufstätigen vom Fachkräftemangel betroffen, eine der Konsequenzen besteht für 86% der Befragten in erhöhter Arbeitsbelastung.[12] Als mögliche Maßnahmen zur Bekämpfung des Fachkräftemangels werden zu jeweils über 90% befürwortet: Erhöhung der Attraktivität der jeweiligen Region, verstärkte Weiterbildung von Arbeitslosen und Geringqualifizierten sowie bessere Bezahlung. Umstrittener ist die Zuwanderung ausländischer Fachkräfte. Ein Drittel der Befragten lehnt dies ab, vor allem Beschäftigte in Kleinbetrieben im ländlichen Raum sowie Befragte mit (rechts-)populistischen Einstellungen.[13] Eine Beobachtung aus einem Ostthüringer Unternehmen illustriert das: Aufgrund fehlender Tarifbindung und schlechter Arbeitsbedingungen zeigte sich hier schon sehr früh ein Mangel an Arbeitskräften, so dass das Management syrische Geflüchtete einstellte, die aber im betrieblichen Alltag bald auf offene Ablehnung stießen. Erst als Management und Betriebsrat deutlich machten, dass ohne die syrischen Arbeitskräfte Stress und Überarbeitung zunehmen würden, wurde die offene Ablehnung zurückgestellt.[14]

Zurück zum aktuellen Monitor, der auch der Frage nachgeht, inwieweit betriebliche Mitbestimmung und rechtsextreme Einstellungen in Thüringen korrelieren. Die erhobenen Daten sind Beleg dafür, dass das Gefühl, die eigenen Arbeitsbedingungen mitbestimmen zu können, (rechts-)populistische Einstellungen reduzieren kann.[15] Mit Verweis auf andere Studien[16] wird festgehalten, dass allein die formale Existenz eines Betriebsrates dafür nicht ausreicht. Politische Partizipation und betriebliche Mitbestimmung können aber ein Gefühl politischer Selbstwirksamkeit und Teilhabe erzeugen, sodass die jeweils eigenen Gestaltungsmöglichkeiten positiver erscheinen und der »Rückgriff auf kollektive Abwertungsstrategien unwahrscheinlicher« werden kann.[17]

Insgesamt, so stellt die Forschungsgruppe heraus, hängen die untersuchten Bewertungen der Arbeitswelt und deren Veränderung nur teilweise mit rechtsextremen und (rechts-)populistischen Einstellungen zusammen: »Zwar können Furcht vor Arbeitsplatzverlust durch Digitalisierung und fehlende betriebliche Mitbestimmung … als Verstärker rechtsextremer bzw. (rechts-)populistischer Einstellungen unter den Berufstätigen in Thüringen gelten. Allerdings ist dieser Einfluss verglichen mit den weiteren … untersuchten individuellen Eigenschaften und Wahrnehmungen der Thüringer*innen nachrangig«. Die wichtigsten verstärkenden Faktoren für Rechtsextremismus und (Rechts-)Populismus seien »der Autoritarismus, der Wunsch nach traditioneller Lebensführung und die soziale Dominanzorientierung, während sich die Demokratieunterstützung hemmend auswirkt«.[18]

Nun begründen all diese Daten und Befunde aber nicht, warum rechte und rassistische Erklärungen die Antwort vieler Thüringer*innen auf ihr Situationsempfinden sind. Die Zukunftskonzepte der LINKEN und der SPD, von Bündnis 90/Die Grünen und vielen linken und demokratischen Initiativen und Verbänden jedenfalls überzeugen offensichtlich wenig. Das hat sicher auch mit dem zu tun, was Peter Reif-Spirek 2023 so formulierte: SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der LINKEN fehle »offensichtlich die lebensweltliche Verankerung in den ländlichen Regionen«. Die Folge seien schwache Wahlergebnisse des gesamten nicht-konservativen Lagers, faktisch seien »die politischen Kommunikationsflächen zu beachtlichen Teilen der Bevölkerung verloren gegangen«.[19] Dieses Bild wurde jüngst dadurch bestätigt, dass bei den Kommunalwahlen im Mai in nicht wenigen Kommunen kaum oder gar keine linken, sozialdemokratischen oder grünen Bewerber*innen zur Wahl als Oberbürgermeister*in oder Landrät*in standen. Auch in Eisenach, wo DIE LINKE bis dahin die Oberbürgermeisterin gestellt hatte, gab es von ihr keinen Vorschlag für deren Nachfolge.

Politische Konfliktfelder

Noch vor dem Regierungswechsel zu Rot-Rot-Grün begannen deren Gegner 2014 regelrechte Kulturkämpfe. Getragen wurde und wird dies von einer parlamentarischen und außerparlamentarischen Melange aus CDU, FDP und AfD, bisweilen auch strikt antikommunistischen Sozialdemokrat*innen sowie vielen diffus-rechten Mobilisierungen, befeuert von offenen Neonazi-Gruppen und einer zunehmenden Anzahl von Reichsbürger*innen. Mehrfach konstituierten sich breite rechte Protestbewegungen, die unterschiedliche Themen aufgriffen, darunter natürlich durchgängig die Flüchtlingspolitik. Die diesbezüglichen Positionen von CDU und FDP Thüringen unterscheiden sich inzwischen in Inhalt und Wortlaut kaum von denen der AfD. 2023 beispielsweise stellte die CDU-Fraktion im Thüringer Landtag einen Antrag mit der Überschrift »Migrationschaos beseitigen – Thüringer Landesaufnahmeprogramme stoppen« zur Abstimmung. In der umstrittenen Fernsehdiskussion zwischen dem CDU-Landesvorsitzenden Mario Voigt und Björn Höcke versuchte Voigt im April 2024 mit der im Vergleich zum Sonneberger AfD-Landrat größeren Härte seiner Parteifreund*innen in den Landratsämtern Saale-Orla und Greiz gegenüber Geflüchteten zu punkten.

Ein zweites Thema, das gleich zu Beginn der ersten rot-rot-grünen Legislatur zur Mobilisierung gegen sie genutzt wurde, waren die Pläne für eine Verwaltungs- und Gebietsreform. Ab 2015 machten CDU und AfD auf breiter Front gegen die Absicht des SPD-geführten Innenministeriums mobil, die Zahl der Gebietskörperschaften deutlich zu reduzieren. 2017 gab die Landesregierung angesichts des anhaltenden Widerstandes schließlich auf. Vor allem in Ost- und Südthüringen hatte es immer wieder große Demonstrationen gegeben, zu denen sich AfD und CDU, oft auch extrem rechte Demonstrant*innen zusammengefunden hatten. In vielen Regionen dominierte die Angst, lokale Identität und wohnortnahe Verwaltungen zu verlieren. Die regionalen Schwerpunkte des Protestes korrelierten mit den Ergebnissen des Thüringen-Monitor 2018, der zum Thema »Heimat« gefragt hatte: »In den Antwortmustern … zeigt sich, dass es vor allem in den Peripherien Thüringens, das heißt in Südthüringen…, in Nordthüringen … und in Ostthüringen … ein ausgeprägtes, über die Landkreise und kreisfreien Städte hinausgreifendes Regionalbewusstsein gibt.«[20]

Ab 2020 waren es die Proteste gegen die Corona-Politik, bei denen sich der Kurzzeit-Ministerpräsident Kemmerich (FDP), der (bis 2021) CDU-Bundestagsabgeordnete Albrecht Weiler (inzwischen Landesvorsitzender der »Werteunion«) und zahlreiche AfD-Politiker*innen unter die Demonstrierenden mischten oder als Redner*innen auftraten. Hier entstand das rechte Narrativ, die R2g-Minderheitenregierung sei nach dem Kemmerich-Intermezzo nur durch einen »Putsch von oben« wieder ins Amt gelangt. Schließlich entwickelte sich nach der Bundestagswahl 2021 auch die Klima-Politik zum Dauerthema der Proteste. Wie oben angedeutet, sieht nur eine Minderheit der Thüringer*innen die Klimaveränderungen als Problem. Seit Jahren sind vielerorts Transparente und Schilder angebracht, die sich gegen den Ausbau der Windkraft in der jeweiligen Region aussprechen, am bekanntesten ist die Debatte um Windkraft im Thüringer Wald.

Während sich Landesregierung und Naturschutzverbände für die vorsichtige Nutzung dieses Gebietes für Windkraft aussprechen, lehnt eine Allianz aus CDU, FDP, AfD und lokalen Bürgerinitiativen das ab, auch hier oft unter Beteiligung rechtsextremer Gruppen. Eine Mehrheit des Landtages aus CDU, FDP, AfD und fraktionslosen Abgeordneten beschloss 2023 ein Gesetz, um »Windräder im Wald« zu verhindern, obwohl der Landtag nach Ansicht vieler Jurist*innen aufgrund des Vorranges von Bundesrecht zu einem Landesgesetz gar nicht befugt ist. Wie sehr die Thüringer CDU das Klimathema zur Polarisierung nutzt, illustrierte 2023 die Wortschöpfung der »Heizungs-Stasi« durch Mario Voigt. Und natürlich wird inzwischen auch die Debatte um geschlechtersensible Sprache zum Kulturkampf stilisiert: Die CDU beantragte im Landtag ein gesetzliches Genderverbot an Schulen und in der öffentlichen Verwaltung. Der Antrag scheiterte letztlich nur, weil aus den Reihen der CDU, der FDP, der AfD und der fraktionslosen Abgeordneten nicht genug anwesend waren, um eine Mehrheit zu erzielen.

Herausgestellt werden muss an dieser Stelle, dass die im Land und auch medial breit diskutierten Themen in aller Regel die waren und sind, die von der AfD gesetzt oder unterstützt werden. Die Themenfelder der LINKEN, der SPD oder von Bündnis 90/Die Grünen treffen seit langem auf wenig Widerhall in der öffentlichen und medialen Diskussion, die der CDU oft nur dann, wenn sie die Themen der AfD aufgreift oder deren Unterstützung hat. Darin zeigt sich die Schwäche nicht allein der parteipolitischen, sondern auch der zivilgesellschaftlichen Linken: Beide sind offenbar nicht in der Lage, ihre Themen so in der Öffentlichkeit und in den Medien zu platzieren, wie dies die AfD vermag. Das ist nicht allein, aber eben auch in Thüringen der Fall. Oskar Negt merkte dazu 2016 an: »Es ist schlimm, mit ansehen zu müssen, wie die einst linken Themen wie Verteilungsgerechtigkeit und die Not der kleinen Leute nach rechts abwandern, und mit dem angereicherten Angstrohstoff, der sich aus einem Gebräu aus Abstiegsängsten, Wut und Alltagsfrustration zusammensetzt, zur Bearbeitung in die Hände von politischen Hasardeuren gelangen, die nichts anderes im Sinn haben, als die Geschichte des Humanismus und der Aufklärung zurückzudrehen.«[21]

Parteien

Zunächst ein Blick auf die bisherigen Ergebnisse der Landtagswahlen in Thüringen seit 1990. Dabei zeigen sich der Verfall der CDU, der lange Aufstieg der PDS bzw. DIE LINKE bis 2019, der Niedergang der SPD sowie das rasche Anwachsen der AfD seit 2014. (Grau hinterlegt sind die jeweiligen Regierungsparteien.)

Landtagswahl

CDU

SPD

PDS/Die LINKE

Bündnis 90/Die Grünen

FDP

AfD

Okt 90

45,4

22,8

9,7

6,5

9,3

 

Okt 94

42,6

29,6

16,6

     

Sep 99

51,0

18,5

21,3

     

Jun 04

43,0

14,5

26,1

     

Aug 09

31,2

18,5

27,4

6,2

7,6

 

Sep 14

33,5

12,4

28,2

5,7

 

10,6

Sep 19

21,8

8,2

31,0

5,2

5,0

23,4

Mit der Dreierkoalition aus DIE LINKE, SPD und Bündnis 90/Die Grünen 2014 und der inzwischen über vierjährigen Minderheitenregierung seit 2019 hat das Land Thüringen zuletzt ungewöhnliche Regierungskonstellationen aufzuweisen.[22] Das Ungewöhnliche wird sich aller Voraussicht nach mit den anstehenden Wahlen nicht ändern, wohl aber die strukturelle Zusammensetzung des Landtages. Neben den drei aktuellen Regierungsparteien sind dort derzeit Fraktionen der CDU und der AfD, eine vierköpfige Gruppe der FDP sowie vier inzwischen fraktionslose Abgeordnete vertreten (drei kommen aus der AfD, eine von der FDP.)

Die Regierungsparteien

Spitzenkandidat der SPD und deren Landesvorsitzender ist Georg Maier, seit 2017 Thüringer Innenminister. Die Partei hat aktuell mit Inneres, Wirtschaft und Finanzen drei Schlüsselressorts inne. In Umfragen wie auch tatsächlichen Wahlergebnissen befindet sich die SPD in einem langjährigen Abwärtstrend, ihr droht im Herbst erneut ein einstelliges Ergebnis. An Selbstbewusstsein mangelt es insbesondere dem Spitzenkandidaten jedoch nicht, er strebt auf jeden Fall eine erneute Regierungsbeteiligung an. Dabei bewegt sich die Partei aktuell immer wieder auf die CDU zu. Bei der Aufstellung der Landesliste wurde die amtierende Finanzministerin Heike Taubert ebenso auf einen aussichtslosen Listenplatz verbannt wie die aktuellen Abgeordneten vom linken, gewerkschaftsnahen Parteiflügel. Ob dieser Tatsache rumort es innerparteilich vernehmbar.[23]

Auf fast 100 Seiten hat die SPD ein Regierungsprogramm beschrieben, ein buntes Potpourri zu allen Themen der Landespolitik. Während dort angekündigt wird, dass Thüringen »die solidarische Gemeinschaft« leben und »unseren Beitrag durch die Aufnahme von Menschen, die aus Kriegs- und Krisengebieten bei uns Schutz suchen« leisten werde,[24] konterkarierte ein frisch gegründeter »Seeheimer Kreis Thüringen« das umgehend und ließ wissen: »SPD-Gruppe um Tiefensee fordert härtere Migrationspolitik und weniger Klimaschutzmaßnahmen«, »sonst kippt hier etwas«.[25] Das wurde der Öffentlichkeit passenderweise exakt an dem Wochenende vermeldet, als zunächst in Jena und tags darauf in Erfurt jeweils knapp 10.000 Menschen gegen die bekanntgewordenen Pläne des »Remigrations«-Treffens in Potsdam demonstrierten und Maier sich auf den Redner*innenbühnen als entschiedener Kämpfer gegen die AfD gab. Insgesamt gibt die Thüringer SPD nicht zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein zerrissenes Bild ab. Das wird nichts am Urteil von Peter Reif-Spirek ändern, der sie seit Jahren zur »Zone gescheiterter Landesverbände« zählt.[26]

Die Verankerung von Bündnis 90/Die Grünen liegt in den größeren (Universitäts-) Städten. Die Partei stellt seit 2014 zwei Minister*innen, zum einen im Ministerium für Migration, Justiz und Verbraucherschutz, zum anderen in dem für Umwelt, Energie und Naturschutz. Als sich der Landesverband 1990 bildete, engagierten sich hier viele Aktivist*innen der vormaligen DDR-Opposition, der Umwelt- und der antifaschistischen Initiativen. In der linken Zivilgesellschaft Thüringens hat die Partei bis heute hohe Anerkennung, ist ein kontinuierlicher und verlässlicher Partner. Auch die Arbeit in der Landesregierung verlief bis zur Jahreswende 2022/23 weitgehend reibungslos.

Dann wurde zunächst öffentlich, dass Umweltministerin Anja Siegesmund ihr Amt abgeben wollte und bald darauf, dass sie einen schnellen Wechsel zur geschäftsführenden Präsidentin eines Lobbyverbandes anstrebte. Beschädigte Siegesmund damit das öffentliche Ansehen ihrer Partei wahrnehmbar, kam kurz darauf der Beschluss der Partei hinzu, ihren zweiten Minister gegen dessen erklärten Willen zu ersetzen. Bis vor kurzem zeigten die Wahlprognosen dessen ungeachtet, dass Bündnis 90/Die Grünen über die Jahre eine kleine, aber offenbar stabile Anhängerschaft aufbauen konnte, die Partei lag mit Ausnahme einer Befragung durchgängig knapp über der Fünf-Prozent-Hürde und hat damit berechtigte Hoffnung, auch im kommenden Landtag vertreten zu sein.

DIE LINKE ist dort seit 1990 mit kontinuierlich wachsenden Ergebnissen vertreten, beginnend mit 9,7% (1990) bis hin zu 31% 2019. Als stärkste Regierungspartei in der Dreierkoalition etablierte sie ab 2014 das Prinzip »gönnen können« in der Koalition, um ein reibungsloses Funktionieren unterschiedlicher Partner zu gewährleisten. Gemeint ist »eine Regierungspraxis, die von Respekt, dem Bemühen um Augenhöhe« geprägt sein sollte, um auch »in schwierigen Zeiten einen ausreichenden und stabilen Vorrat an Gemeinsamkeiten zu bewahren«.[27] Allerdings konnte damit nicht verhindert werden, dass auch in Thüringen der stärkste und sichtbarste Koalitionspartner von der Regierungsarbeit profitiert, während die kleineren Partner an Stimmen verlieren. Vor allem profitiert DIE LINKE vom öffentlichen Ansehen des Ministerpräsidenten Bobo Ramelow, dessen Beliebtheitswerte nach wie vor deutlich über denen aller anderen Spitzenkandidat*innen liegen. Den inhaltlichen Schwerpunkt im Wahlkampf der LINKEN sollen klassisch-linke Themen spielen: Bildungsgerechtigkeit, wohnortnahe Gesundheitsversorgung, sozialer Wohnungsbau, bezahlbare Energie, öffentlicher Nahverkehr, Gute Arbeit sowie der Schutz der Demokratie. Vor allem aber wird die Partei ihren Ministerpräsidenten in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes stellen. Angekündigt wird weiter, die in den vergangenen zehn Jahren entwickelte enge Zusammenarbeit mit den DGB-Gewerkschaften fortsetzen und die Industrie im Transformationsprozess nach dem Vorbild anderer Bundesländer deutlich aktiver unterstützen zu wollen, als dies aktuell der Fall ist.

Die Opposition

Für die Thüringer Industrie hat die CDU in ihren bisher vorliegenden programmatischen Erklärungen andere Angebote: den ebenso unvermeidlichen wie unklaren Bürokratieabbau, die Fachkräftegewinnung und einen vielfältigen Kanon unterschiedlichster energiepolitischer Absichten inclusive der Reaktivierung der Kernkraft. Das folgt der Maxime, sich in jedem Fall von grüner Klimapolitik abzugrenzen. Deutlich klarer sind die Forderungen zur Migrationspolitik: Die EU-Außengrenzen sollen gesichert werden, Kontrollen auch an den EU-Binnengrenzen stattfinden, bisherige Aufnahmeprogramme sollen beendet werden und ukrainische Flüchtlinge künftig kein Bürgergeld mehr beziehen. Sachleistungen will man Vorrang vor Geldleistungen geben, Abschiebezentren einrichten und Abschiebungen gesetzlich stärken. Die Verpflichtung zu gemeinnützigen Arbeitsgelegenheiten soll ausgebaut werden, zynisch als »Vorbereitung für den ersten Arbeitsmarkt« bezeichnet.[28] Insgesamt lehnt die Partei weitgehend alles ab, was Bundes- und Landesregierung tun, landespolitische Vorschläge spielen eine Nebenrolle. Martin Debes, früherer Chefreporter der Zeitungen der Funke-Mediengruppe in Thüringen, urteilte kürzlich über die Thüringer CDU: »Der christlich-demokratische Kulturkampf gegen die linke Identitätspolitik macht aus geschlechtergerechter Sprache ›Gender-Gaga‹ und deutet Klimaschutz-Maßnahmen zum ›Angriff auf den ländlichen Raum‹ um.«[29]

Die Partei steht aber aus ganz anderen Gründen im Brennglas der Öffentlichkeit: Wird sie bei passendem Wahlergebnis eine gemeinsame Landesregierung mit der AfD bilden, alternativ dazu sich in einer neuen Minderheitenregierung von ihr dulden lassen, oder wird sie die in jüngster Zeit unter dem Druck der Öffentlichkeit formulierte Distanz auch um den Preis weiterer Jahre in der Opposition wahren? Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Beispielen für die wissentliche Zusammenarbeit mit der AfD im Landtag und in den Kommunen,[30] im Gegensatz dazu versucht sich der CDU- Spitzenkandidat aktuell als scharfer Gegner der AfD zu profilieren. Tatsächlich ist ihm zuzurechnen, dass er die im Zerfall befindliche Thüringer CDU nach dem Systemabsturz bei der Kemmerich-Wahl 2020 vor der Implosion bewahrte und sie zu einer zumindest partiellen Duldung der rot-rot-grünen Minderheitenregierung führte. Allerdings ist die Partei nach wie vor tief gespalten, es gibt einen starken rechtsoffenen Flügel vor allem in Südthüringen, der mit großer Sicherheit die Diskussionen über eine Koalition mit der AfD wieder aufnehmen wird, sollten sich keine anderen, für sie akzeptablen Regierungsoptionen ergeben. Auch eine Abspaltung dieses Flügels von der CDU und sein Wechsel zur Werteunion sind jedenfalls vorstellbar, so dass die plötzlich über eine Landtagsfraktion verfügen und mit der AfD über eine gemeinsame Regierung verhandeln könnte, dann vielleicht mit einem Ministerpräsidenten Hans-Georg Maaßen.

Ob Voigt einen möglichen innerparteilichen Machtkampf gewinnen wird, ist zumindest offen. Und selbst wenn es ihm gelingt, eine Minderheitenregierung unter seiner Führung mit Duldung durch DIE LINKE oder das BSW zu bilden, wird die Zahl gemeinsamer Abstimmungen mit der AfD im Laufe der Legislatur als zunächst schleichender Prozess zunehmen. Wie schwer der Thüringer CDU eine klare Abgrenzung zur AfD fällt, wurde jüngst aufs Neue offenbar: Im Wartburgkreis sitzt seit Jahren und auch künftig ein Mann parallel für die AfD im Kreistag und für die CDU im Stadtrat. Der zuständige CDU-Kreisvorsitzende kommentierte lapidar: »Es ist ein Grundprinzip unseres Kreisverbandes, dass die Ortsverbände eigenständig über die Aufstellung ihrer Stadt- und Gemeinderatslisten nach bestem Wissen und Gewissen vor Ort entscheiden.«[31] Der Landesverband der CDU schweigt dazu beharrlich.

Die FDP wird aller Voraussicht nach nicht für eine Koalition mit der CDU zur Verfügung stehen. Sie liegt in Umfragen beständig um die 2%, ein Wiedereinzug in den Landtag käme sehr überraschend. Entgegen der Forderung der FDP-Bundesspitze hält sie an Thomas Kemmerich als Spitzenkandidat fest und erhält von der Mutterpartei daher keine finanzielle Unterstützung für ihren Wahlkampf. Auch dass Kemmerich sich im Mai 2020 in Gera an einem der ersten Protestmärsche gegen die Corona-Schutzmaßnahmen demonstrativ und provokant ohne Einhaltung der gerade eingeführten Abstands- und Schutzregeln beteiligte, wurde von seinen Parteifreund*innen außerhalb Thüringens heftig kritisiert. Ohne Berührungsängste bewegte er sich dort neben AfD-Politiker*innen, Angehörigen der Thüringer Neonazi-Szene und einer bunten Schar Verschwörungstheoretiker*innen.

Nur kurz zur AfD Thüringen. Sie ist mit ihrem Vorsitzenden Björn Höcke in den Medien omnipräsent und vielfach analysiert.[32] Der Landesverband wurde im April 2013 gegründet und fiel noch schneller als die Mutterpartei durch seine Nähe zu extrem rechten Positionen wie auch durch die Mitgliedschaft bekannter Rechtsextremist*innen auf. Nur für kurze Zeit hatte ein heute längst vergessener Sozialpädagoge aus Ostthüringen den Vorsitz, im Juni 2014 übernahm Höcke den Posten nach vielerlei Richtungsstreitigkeiten. Bei den Landtagswahlen 2014 erreichte die Liste knapp 11% der Stimmen und war vor allem im Süden und Osten Thüringens erfolgreich. Im Spätherbst 2014 nutzten die Demonstrationen und Proteste gegen die Bildung einer rot-rot-grünen Landesregierung vor allem der AfD, die dort massiv präsent war und nun zur rechten Bewegungspartei wurde.

In der der Folgezeit pflegte sie dieses öffentliche Auftreten und initiierte zu vielerlei Themen öffentliche Kundgebungen und Demonstrationen. Sie etablierte eine rechte Protestkultur, die vielerorts das Straßenbild prägt. Für viele Menschen mit diffusen rechten Einstellungen ist die Teilnahme an Demonstrationen und Kundgebungen inzwischen zur Normalität geworden, ob es nun gegen Windräder, Flüchtlingsunterkünfte, Corona-Schutzmaßnahmen, eine Gebietsreform oder für die weitere Subventionierung des Agrardiesels geht. Für die Zeit von August 2022 bis Mai 2023 liegt eine Medienanalyse zum Thüringer Demonstrationsgeschehen vor, die thematisch uneindeutigen Protesten eine »hohe Ereignisdichte« wie auch hohe Teilnehmendenzahlen attestiert, die »organisatorisch … durch rechtspopulistische bis extrem rechte Akteur*innen geprägt« waren.[33] Daran wird sich seitdem nichts geändert haben.

Die Newcomer: Werteunion und BSW

Große Aufmerksamkeit im Wahlkampf wird sicherlich die neugegründete Werteunion um Hans-Georg Maaßen erhalten, der zwar selbst nicht kandidiert, sich aber laut eigener Ankündigung als potentieller Ministerpräsident bereithält. Zum Spitzenkandidaten kürte die Werteunion den vormaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Albert Weiler, der sich noch als CDU-Mitglied an rechten Protesten gegen die Pandemie-Politik beteiligt hatte. Neu in den Landtag einziehen wird allen Prognosen zufolge das »Bündnis Sahra Wagenknecht«. Spitzenkandidatin wird dabei Katja Wolf sein, bislang Oberbürgermeisterin der Stadt Eisenach für DIE LINKE und davor Landtagsabgeordnete. Für das Thüringer BSW gilt programmatisch die gleiche Ungewissheit wie auf Bundesebene darüber, für was die künftige Landtagsfraktion stehen wird. Bislang irrlichtern die öffentlichen Aussagen um Themen wie Waffenlieferungen und Sanktionspolitik, Migration, Klimapolitik und soziale Sicherheit. Bisher vorliegenden Prognosen zufolge könnte das BSW bis zu 20% erreichen, das unterstrichen dann auch die Europawahlen. Zugleich zeigte sich hier, dass das BSW weniger Wähler*innen der AfD zu sich zieht als vielmehr solche der LINKEN, der CDU, der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen.

Das BSW erfreut sich daher nicht nur hoher Aufmerksamkeit, sondern auch vielfacher Avancen: DIE LINKE und die SPD wollen eine künftige Zusammenarbeit nicht ausschließen, und selbst Mario Voigt widersprach für die CDU Thüringen seinem Parteivorsitzenden Friedrich Merz eilig, als dieser eine Zusammenarbeit ablehnte.

Kommunal- und Europawahlergebnisse

Insgesamt setzte sich bei den Kommunal- und Europawahlen Ende Mai/ Anfang Juni die Landnahme der AfD fort, auch wenn sie keinen weiteren Landrats- oder Oberbürgermeisterposten erhielt: In neun Thüringer Kreistagen und Stadträten stellt sie die stärkste Fraktion, in zehn Kreistagen und Stadträten die zweitstärkste. Das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena widerspricht in seiner Wahlanalyse der längst widerlegten These von Protestwähler*innen deutlich: »Das lässt den Schluss zu, dass die AfD in Thüringen mittlerweile einen gefestigten Pool von Stammwähler*innen hat, der die Partei gerade wegen ihrer rechtsextremen Positionen unterstützt.«[34] Die Gewinne der AfD gingen bei den Kommunalwahlen hauptsächlich zulasten der Parteien DIE LINKE, Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Hinzu kommen die Erfolge einer steigenden Zahl von Wähler*innengemeinschaften und Bürgerinitiativen, wobei dort progressive Forderungen die Ausnahme sind: »Gerade in ländlichen Regionen dominieren Wähler*innenbündnisse und Initiativen mit konservativen und marktliberalen bis hin zu demokratiefeindlichen Positionen.«[35]

Bei den Europawahlen wurde die AfD in Thüringen mit über 30% der Stimmen stärkste Partei, das BSW erzielte 15%, Rot-Rot-Grün zusammen nur noch rund 18%. Im Vergleich zu den Ergebnissen der Europawahl 2014, die damals auch im Schatten der sogenannten Euro-Krise stand, hat DIE LINKE drei Viertel ihrer Wähler*innen verloren, die SPD mehr als die Hälfte und Bündnis 90/Die Grünen ein Fünftel.[36] In diesem Vergleich hat auch die CDU inzwischen ein Viertel ihrer damaligen Wählerschaft eingebüßt und liegt nun mit etwa 23% deutlich hinter der AfD.

Zivilgesellschaft

Im Februar 2020 zeigte sich in den Protesten gegen die Kemmerich-Wahl die Breite der damals in Thüringen bestehenden demokratischen Zivilgesellschaft. Mehr als 60 Verbände und Initiativen riefen zu einer Demonstration »Kein Pakt mit Faschist*innen« in Erfurt auf und mobilisierten in kurzer Zeit fast 20.000 Menschen. Darunter waren Fridays for Future, regionale und landesweite antifaschistische Bündnisse und Netzwerke, migrantische Organisationen, Gewerkschaften, feministische Gruppen, Träger der Bildungs- und Jugendarbeit, die Konferenz Thüringer Studierendenschaften und die Wohlfahrtsverbände. Seit 1990 haben sich im Freistaat immer wieder unterschiedliche Initiativen und Bewegungen zum oft kritischen, aber solidarischen Miteinander zusammengefunden. Die DGB-Gewerkschaften waren (und sind) vielerorts wichtige Partner, für die Kirchen und lokalen Kirchgemeinden gilt ähnliches.

Die Pandemie schlug ab März 2020 auch in diesem Punkt eine anhaltende Schneise. Die politische Rechte übernahm die Straßen und prägt seitdem einen großen Teil der Protestkultur. Während sich auf vollen Marktplätzen Pandemieleugner*innen versammelten, standen dem (wenn überhaupt) zumeist nur kleine Gruppen Gegendemonstrant*innen gegenüber, mit Maske und dem vorgeschriebenen Abstand untereinander. Auch die DGB-Gewerkschaften waren in ihren Tarifbewegungen zunächst beschränkt und öffentlich wenig sichtbar. Die Proteste von fridays for future sind merklich kleiner geworden, gleiches gilt zumindest bis 2022 für antifaschistische und antirassistische Demonstrationen. Seit dem zweiten Halbjahr 2023 ist ein Umschwung bemerkbar, verschiedene Initiativen zur Bildung neuer Netzwerke und Bündnisse insbesondere im Hinblick auf die Wahlen des Jahres 2024 trafen und treffen auf großes Interesse. So gab es Anfang 2024 an vielen Orten unerwartet große und breit getragene Kundgebungen, nachdem die Rechercheergebnisse zum Treffen der extremen Rechten in Potsdam bekannt geworden waren.

Dazu haben sich neue Netzwerke gebildet, die nun auch von Wirtschaftsunternehmen geprägt sind. Bekanntestes Beispiel dafür ist »Weltoffenes Thüringen«, im Januar 2024 konstituiert und unter anderem aus Initiativen der optoelektronischen und der IT-Branche hervorgegangen. Im Selbstverständnis beruft sich das Netzwerk darauf, für ein weltoffenes und vielfältiges Thüringen ebenso einzustehen wie für die Unteilbarkeit der Menschenrechte, plurale Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.[37] Schon vor vier Jahren setzten Thüringer Unternehmen der Optoelektronik ein klares Zeichen, als sie von einer Messe in den USA aus ihre Haltung zur Kemmerich-Wahl mitteilten: »Diese Wahl war offenkundig nur mit Unterstützung einer rechtsextremen Partei möglich… Wir akzeptieren nicht, dass diese Positionen einen entscheidenden Einfluss auf die Thüringer Landespolitik nehmen… Wir bitten die Thüringer Landesverbände von DIE LINKE, CDU, SPD, Bündnis 90/Grüne und FDP zu einem Konsens zu finden, der auf demokratischen Werten, wirtschaftlicher und sozialer Verantwortung und ökologischer Vernunft beruht.«[38] Wie sich diese neuen Bündniskonstellationen nach der Landtagswahl am 1. September positionieren werden, ist vorerst offen.

Was nun?

Die politische und gesellschaftliche Linke in Thüringen wird eine intensive Debatte darüber führen müssen, wie sie sich in einem nach rechts gerutschten Bundesland formiert. Zehn Jahre rot-rot-grüner Regierung haben weder die Thüringer Gesellschaft grundlegend verändert, noch den gesellschaftlichen Diskurs nach links verschoben. Erinnert sei an eine Kritik Klaus Dörres: »r2g steht vielleicht für hohe Regierungskunst, aber keinesfalls für eine erfolgreiche Ausübung linker Hegemonie«. Das Regierungsbündnis pflege einen Stil, »dessen Hauptziel darin bestand, bis ins bürgerliche Lager hinein zu integrieren. Für Kritik von links oder von unten bot die Koalition keinen Raum.«[39] Nach der Regierungsübernahme 2014 waren es auch die DGB-Gewerkschaften, die wiederholt, aber meist erfolglos ihren Unmut insbesondere über die Politik des Wirtschaftsministeriums übten. Umgekehrt hieß es bald aus der Landesgeschäftsstelle der LINKEN, dass außerparlamentarische Bewegungen zu wenig dafür täten, »den entsprechenden zivilgesellschaftlichen Druck aufzubauen«, stattdessen »zogen sich viele außerparlamentarische Akteure eher zurück in der irrigen Annahme, substanzielle Veränderungen würden nun aus der Regierung heraus vollzogen«.[40] Die breite Mobilisierung im Februar 2020 blieb am Ende eine defensive, sie zielte fast ausschließlich auf die Korrektur der Kemmerich-Wahl.

Aber auch mit dem Schwung dieser erfolgreichen Mobilisierung im Rücken vermochten es linke Zivilgesellschaft und Minderheitenregierung nicht, gemeinsame und überzeugende Visionen zu entwickeln, beispielsweise für eine klimafreundliche Industrie in Thüringen mit zukunftsfesten und attraktiven Arbeitsplätzen, oder gar eine gesellschaftliche Diskussion über linke Gegenentwürfe zur rechten Landnahme zu initiieren. Auch nach dem 1. September 2024 und unabhängig von der anschließenden Regierungsbildung bleibt die Debatte aber zu führen, auch um »den Rechtsradikalen …  den Angstrohstoff, den sie fleißig bearbeiten, und damit den Handlungsboden zu entziehen«.[41]

Michael Ebenau ist Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen und ehemaliger Bevollmächtigter der IG Metall in Jena und Gera


[1] Hatto Frydryszek/Roland Merten: Wie tickt Thüringen? Lebenszufriedenheit im Freistaat vor dem Superwahljahr, herausgegeben von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Thüringen: https://www.fes.de/landesbuero-thueringen/publikationen.

[2] Ebda., S. 19.

[3] Ebda., S. 20.

[4] Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft (Hrsg.): Demografiebericht 2023, Teil 1, Bevölkerungsentwicklung des Freistaats Thüringen und seiner Regionen, Erfurt 2023, S. 50.

[5] Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (Hrsg.): Armut in der Inflation. Paritätischer Armutsbericht 2024, S. 13.

[6] Werner Olle/Daniel Plorin/Rico Chmelik: Wege zur Zukunftsfähigkeit der Automobilzulieferindustrie in Thüringen. Studie des Chemnitz Automotive Institute (CATI) in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk automotive thüringen e.V. (at) im Auftrag des Thüringer Cluster Management (ThCM) in der Landesentwicklungsgesellschaft Thüringen mbH (LEG Thüringen), Erfurt September 2018, Kurzfassung S. 7.

[7] Michael Ebenau: Sechs Jahre rot-rot-grün in Thüringen. Bilanz und Perspektiven für Gewerkschaften, in: Sozialismus 6/2021, S. 45 ff.

[8] Marion Reiser/Anne Küppers/Volker Brandy/Jörg Hebenstreit/Lars Vogel: Politische Kultur im Freistaat Thüringen - Politische Kultur in Stadt und Land. Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2022, Erfurt 2023.

[9] Ebenda, S. 88 f.

[10] Marion Reiser/Anne Küppers/Volker Brandy/Jörg Hebenstreit/Lars Vogel: Politische Kultur im Freistaat Thüringen - Politische Kultur und Arbeitswelt in Zeiten von Polykrise und Fachkräftemangel. Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2023, Erfurt 2024, S. 122.

[11] Ebda. S. 122 f.

[12] Ebda. S. 120.

[13] Ebda..

[14] Stefan Schmalz/Sarah Hinz/Ingo Singe/Anne Hasenohr: Abgehängt im Aufschwung. Demografie, Arbeit und rechter Protest in Ostdeutschland, Frankfurt am Main 2021, S. 130 ff.

[16] Dieter Sauer Sauer/Ursula Stöger/Joachim Bischoff/Richard Detje/Bernhard Müller: Rechtspopulismus und Gewerkschaften. Eine arbeitsweltliche Spurensuche. Hamburg 2018; Johannes Kiess/Alina Wesser-Saalfrank/Sophie Bose/Andre Schmidt/Elmar Brähler/Oliver Decker: Arbeitswelt und Demokratie in Ostdeutschland. Erlebte Handlungsfähigkeit im Betrieb und (anti) demokratische Einstellungen, OBS-Arbeitspapier 64, Frankfurt am Main 2023.

[17]  Marion Reiser/Anne Küppers/Volker Brandy/Jörg Hebenstreit/Lars Vogel: Politische Kultur im Frei-staat Thüringen – Politische Kultur und Arbeitswelt in Zeiten von Polykrise und Fachkräftemangel, a.a.O., S. 102.

[18] Ebda., S. 104.

[19] Peter Reif-Spirek: Gefährdete Demokratie oder: Die langen Linien des Thüringer Faschismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Ausgabe 11/2023, S. 87.

[20] Marion Reiser/ Heinrich Best/ Axel Salheiser/ Lars Vogel: Politische Kultur im Freistaat Thüringen. Heimat Thüringen – Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2018, o.O. o.J., S. 46.

[21] Oskar Negt, Rot-Rot-Grün im Trialog. Schaffen wir linke Mehrheiten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Ausgabe 12/2016, S. 82.

[22] Siehe dazu Benjamin-Immanuel Hoff: Praxis und Friktionen rot-rot-grüner Regierungspolitik, in: Benjamin-Immanuel Hoff (Hrsg.): Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam und progressiv regiert wird, Hamburg 2023, S. 31 ff.; Torsten Oppeland: Funktionsweise und -fähigkeit der Minderheitsregierung (2020 bis 2023), in: Benjamin-Immanuel Hoff (Hrsg.): Neue Wege gehen, a.a.O., S. 75 ff.

[23] Grabenkämpfe in der Thüringer SPD. Der linke Flügel der Sozialdemokraten fühlt sich von Landesparteichef Georg Maier ausgebootet, in: Thüringer Allgemeine vom 17. Mai 2024.

[24] Klar und deutlich für Thüringen. Regierungsprogramm der SPD Thüringen, beschlossen auf dem Landesparteitag am 2. Dezember 2023 in Meiningen, S. 18.

[25] »Sonst kippt hier etwas«. SPD-Gruppe um Tiefensee fordert härtere Migrationspolitik und weniger Klimaschutzmaßnahmen, in: Thüringer Allgemeine vom 20. Januar 2024.

[26] Peter Reif-Spirek: AfD oder: Die Krise der Repräsentation, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Ausgabe 5/2016, S. 26.

[27] Benjamin-Immanuel Hoff: Praxis und Friktionen rot-rot-grüner Regierungspolitik, a.a.O., S.40 f.

[28] CDU Thüringen: Der Thüringen-Plan. Das Regierungsprogramm der CDU Thüringen, S. 56.

[29] Martin Debes: Deutschland der Extreme. Wie Thüringen die Demokratie herausfordert, Berlin 2024, S. 240.

[30] Siehe Martin Debes: Deutschland der Extreme, a.a.O., S. 242 ff.

[31] Für CDU und AfD: Kandidat fährt zweigleisig, in: Thüringer Allgemeine vom 22. Mai 2024.

[32] Vgl. u.a. Hajo Funke: Die Höcke-AfD. Vom gärigen Haufen zur rechtsextremen »Flügel«-Partei, Hamburg 2020.

[33] Viktoria Kamuf/Dominique Guilleaume/Axel Salheiser: Zivilgesellschaft in Bewegung: Protestereignisse in Thüringen 2022/23 im Spiegel der Presseberichterstattung, Jena 2024, S. 17 f. (https://www.idz-jena.de/).

[34] Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft: „Blaues Auge“ statt „blauer Welle“? Kurzanalyse zu den

Kommunalwahlen 2024 in Thüringen, S. 4. ( https://www.idz-jena.de/ ).

[35] Ebenda S. 7 f.

[36] Alle Daten sind erfasst bei https://wahlen.thueringen.de/.

[38] Zit. Nach Klaus Dörre: Thüringen: Vom Tabubruch zum Ramelow-Comeback und darüber hinaus, S. 52 in: spw – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft 1/2020.

[39] Klaus Dörre: Bonapartismus von links – die Bedeutung der Thüringenwahl für progressive Politik, in: spw – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft 6/2019, S. 13.

[40] Volker Hinck: Mission Possible? Chancen und Grenzen des Rot-Rot-Grünen Regierungsprojekts in Thüringen, in: Luxemburg, Ausgabe 3/2016. ( https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/mission-possible-thueringen/ ).