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Die Plattformökonomie ist in Argentinien angekommen. Johannes Schulten über Arbeitskämpfe bei digitalen Essenslieferant*innen.

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor

Johannes Schulten,

Erschienen

Januar 2019

Buenos Aires, ein Sonntag im Juli 2018. Etwa 200 riders versammeln sich zeitgleich auf drei zentralen Plätzen der bürgerlichen Stadtviertel Palermo, Belgrano und Recoleta. Sie arbeiten für den kolumbianischen Essenslieferdienst Rappi, der seit März in Argentinien aktiv ist. Für die meisten ist es das erste Mal, dass sie sich in einer größeren Gruppe über die Arbeitsbedingungen austauschen können. Entsprechend viel wird diskutiert. Währenddessen gehen laufend neue Aufträge auf ihren Smartphones ein. Die riders entscheiden, diese zu ignorieren. Kurze Zeit später reagiert Rappi: Die Bezahlung pro Auftrag wird erhöht.

«Das war der erste argentinische riders-Streik und der Auftakt zur Gründung von APP», sagt María Fierro. APP steht für Asociación de Personal de Plataformas – Vereinigung von Plattformarbeiter*innen. Fierro ist ihre Erste Vorsitzende. Die 26-Jährige erzählt diese Geschichte bei einer Veranstaltung des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Buenos Aires Ende November. Doch von Aufbruchstimmung kann an diesem Abend keine Rede sein. Fierros linkes Auge ist blau und geschwollen, eine lange Schramme zieht sich von ihrer Wange bis zum Hals. Die Wunden sind Folgen eines Überfalls. Während einer Protestaktion etwa eine Woche zuvor wurden APP-Aktivist*innen von einer Horde Motorradfahrer attackiert, Fierro wurde schwer verletzt. Was besonders verstört: Der Angriff kam mehr oder weniger aus den eigenen Reihen. Das Überfallkommando gehörte zur Gewerkschaft der Motorradkuriere, der Asociación Sindical de Motociclistas Mensareros. A.Si.M.M. ist Teil jener Spezies argentinischer Arbeiterorganisationen, die gerne als sindicalismo empresario umschrieben (etwa: »unternehmerischer Syndikalismus«) werden – man weiß nie, ob die Gewerkschaft noch dazu dient, die Interessen der eigenen Mitglieder zu vertreten, oder ob sie sich bereits anderen Geschäftsfeldern zugewandt hat. Auch der A.Si.M.M. wird nachgesagt, ins Geschäft der (digitalen) Lieferdienste einsteigen zu wollen. Fakt ist: Sie erhebt den Anspruch, nicht nur den in Argentinien traditionell großen Sektor der Motorradkuriere zu organisieren, sondern auch die riders der neuen digitalen Essenslieferdienste.

Doppelt prekär

Der Plattformkapitalismus ist inzwischen auch in Argentinien angekommen. Deliveroo und Foodora heißen hier Rappi und Glovo. Obwohl seit gerade mal einem Jahr aktiv, sind die mit bunten quadratischen Rucksäcken bepackten Fahrrad- und Motorradkuriere kaum mehr aus dem Stadtbild von Buenos Aires, La Plata oder Córdoba wegzudenken. Nicht offiziellen Schätzungen zufolge soll es bereits mehrere Zehntausend von ihren in Argentinien geben.

Auch der Onlineriese Amazon kündigt sich an, dürfte aber mit starker Konkurrenz zu kämpfen haben. Der Platzhirsch im argentinischen wie auch im brasilianischen Onlinehandel heißt Mercado LibreFreier Markt»). 1999 gegründete ist Mercado Libre eines der wenigen digitalen Plattformunternehmen aus Argentinien. Uber, der weltgrößte digitale Fahrdienstvermittler aus San Francisco, ist seit 2016 in Argentinien präsent. Allerdings mit unklarem rechtlichen Status. Während der Dienst in einigen Städten legal ist, hat ein Gericht das Geschäftsmodell für Buenos Aires verboten. Trotzdem hat sich in der Hauptstadt ein immenser Schwarzmarkt mit etwa 600.000 registrierten Nutzer*innen entwickelt. Für die Tausende Fahrer*innen ist die Situation doppelt prekär. Der halblegale Status drückt nicht nur ihre ohnehin schon geringen Verdienste. Sie müssen zudem ständig mit Kontrollen und empfindlichen Strafen durch die Behörden rechnen.

«Der eigene Chef sein»

«Die Plattformen und ihr Geschäftsmodell stehen für die Prekarisierung und, was noch schlimmer ist, für die Verarmung der Arbeiter*innen, in ihrer reinsten Form. Sie sind das Bedrohungsszenario für die Arbeitswelt im 21. Jahrhundert», sagt der argentinische Soziologe Martín Unzué, Direktor des Sozialforschungsinstituts Gino Germani der staatlichen Universität von Buenos Aires, UBA. Dabei geht es ihm nicht nur um die niedrigen Löhne, den Status der Scheinselbstständigkeit der riders oder den Umstand, dass die Plattformunternehmen das Arbeitsrecht unterlaufen, indem sie einseitig Geschäftsbedingungen formulieren, die von den Beschäftigten mit dem Download der App akzeptiert werden. Wie in Deutschland stellen riders oder Uber-Fahrer*innen ihre Produktionsmittel selber. Sie sind weder sozial- noch unfallversichert. Letzteres ist vor allem für die Fahrradkuriere ein Problem. Denn sich in Buenos Aires mit dem Fahrrad zu bewegen, grenzt an Selbstmord. Die Straßen sind ständig verstopft, über Vorfahrt entscheidet nicht die Rechts-vor-links-Regel, sondern das Maß an Bereitschaft, im Zweifel eine Delle oder schlimmeres zu riskieren. 136 Personen fielen 2018 dem hauptstädtischen Verkehrswahnsinn zum Opfer. Zum Vergleich: In Berlin waren es 36.

Von diesen Risiken ist in den teuren Werbekampagnen von Uber und Co. naturgemäß nicht die Rede. Wer sich den aktuellen Werbespot von Uber für Argentinien bei Youtube anschaut, dürfte vielmehr bezweifeln, dass es sich bei den Fahrten überhaupt um Lohnarbeit handelt. Fahrer*in und Kund*in duzen sich, als wären sie alte Freund*innen und die Fahrt zum Flughafen lediglich ein Gefallen. Man begegnet sich auf Augenhöhe.

Für Unzué gibt es ein zweites Problem, welches vor allem in (semi)-peripheren Gesellschaften evident ist. «In einer Wirtschaft wie der argentinischen, die aufgrund ihrer peripheren Stellung in der Weltwirtschaft regelmäßig unter schweren Krisen leidet, beschleunigen die Plattformunternehmen mit ihren Geschäftsmodellen den ohnehin schon starken Devisenabzug.» Die wenigsten Plattformunternehmen haben ihren Hauptsitz in Argentinien. Rappi ist kolumbianisch, Glovo spanisch, Uber kommt aus den USA. Doch die Märkte, auf denen sie aktiv sind, waren bisher weitgehend regional kontrolliert – ob die gelieferte Pizza oder die Taxifahrt zum Bahnhof. Die erwirtschafteten Gewinne blieben im Land, nun werden sie ins Ausland transferiert.

Trotzdem sind die Arbeitsplätze heiß begehrt. Das wundert wenig, denn das Geschäftsmodell passt hervorragend in eine Gesellschaft mit einer Arbeitslosigkeit von annähernd zehn Prozent und einer Armutsquote von über 30 Prozent. Argentinien steckt aktuell in der schwersten Wirtschaftskrise seit 2001. Um den endgültigen Kollaps zu verhindern, hat der 2015 gewählte, neoliberale Präsident Mauricio Macri im vergangenen Jahr einen Kredit über 50 Milliarden beim IWF aufgenommen, aus dessen Abhängigkeit der verstorbene Expräsident Néstor Kirchner (2003 bis 2007) das Land durch Abzahlung sämtlicher Schulden befreit hatte. Die Zeche zahlt vor allem die Bevölkerung. Preise für Erdgas, Wasser, U-Bahn, Bus und Strom sind im vergangenen Jahr um ein Vielfaches gestiegen. Umgerechnet 20 Pesos (etwa 50 Cent) bezahlte ein Haushalt noch vor drei Jahren monatlich für Wasser, heute sind es 800 Pesos (rund 20 Euro) (Götze 2018, 27). Die U-Bahnpreise stiegen um 30 Prozent. Unzählige Menschen müssen sich mit Zweit-, oder Drittjobs über Wasser halten. Flexible Arbeitszeiten, mit denen die Plattformen werben, sind gefragt. Im Januar hat Macri weitere Erhörungen angekündigt.

So war es auch bei der alleinerziehenden Mutter María Fierro. «Bei Rappi haben sie uns gesagt, dass wir arbeiten können, wann wir wollen, nur die Aufträge annehmen müssen, die sich lohnen, dass wir unsere eigenen Chefs wären. Ich habe das geglaubt.» In den ersten Monaten traf das auch zu. Zwar betrug der Lohn für eine Bestellung nur 40 Pesos (etwa 40 Cent). Aber sie hatte die Möglichkeit, wenig lukrative Aufträge mit langen Fahrtwegen abzulehnen. Doch dann hat Rappi den Algorithmus geändert. Aufträge mussten nun angenommen werden. Wer ablehnte, wurde vom Algorithmus heruntergestuft und bekam weniger und vor allem Fahrten mit höheren Entfernungen. «Manchmal mussten wir 20 Blöcke fahren, nur für eine Pizza.»

«Das war für viele der Punkt, an dem wir wussten, es nicht wahr war, was sie uns erzählt haben», sagt sie. Zuerst gründeten sie eine WhatsApp-Gruppe, um sich kennenzulernen und über die Funktionsweise der App auszutauschen.

Wie in Italien oder Deutschland (Palmer 2017; Animento u.a. 2017) erfolgten erste Organisierungsversuche von Digitalarbeiter*innen weitgehend unabhängig von den großen Gewerkschaften. In Argentinien, mit seinem hochgradig korporatistischen Gewerkschaftssystem, wundert das gleichwohl wenig. Inzwischen sogar im Mainstream der internationalen Gewerkschaftsbewegung geführte Debatten über Mitgliederbeteiligung und neue Formen der Mitgliedergewinnung wie Organizing sind in Argentinien auch bei den linken Verbänden weitgehend unbekannt. Auch wenn man das mafiöse Vorgehen von Gewerkschaften wie A.Si.M.M als Ausnahme wertet – nach Konzepten und Strategien, um mit den neuen Herausforderungen der digitalen Arbeit umzugehen, sucht man beim Gros der argentinischen Gewerkschaften vergebens. Auch die ersten Versuche der Uber-Fahrer*innen, sich autonom zu organisieren, stießen auf wenig Gegenliebe.

Exklusive Solidarität: Uber-Fahrer als Bedrohung

Dabei ist der Widerstand der Taxigewerkschaften gegen Uber bewundernswert. Kurz nach Markteintritt legten Taxifahrer*innen mit einer Massendemonstration und 25 Straßenblockaden die halbe Stadt lahm. Seither kommt es immer wieder zu massiven Demonstrationen, Blockaden, aber auch zu tätlichen Übergriffen auf Uber-Fahrer*innen. Das Problem ist, der Widerstand findet ohne die Uber-Beschäftigten statt. Dass sie sich scheinbar wehrlos diesen prekären Arbeitsbedingungen ausliefern, macht sie aus der Perspektive der gut organisierten Taxifahrer*innen zu einer Bedrohung. Sie werden nicht einmal als Arbeiter wahrgenommen. Die Soziologie spricht hier von «exklusiver Solidarität» (Dörre 2013).

Für Juan Ottaviano, der Fierro und ihre Compañeras von APP als Anwalt juristisch berät, sind die Übergriffe von Taxifahrer*innen auch ein Grund dafür, dass sich wenig Uber-Fahrer*innen öffentlich als Gewerkschaftsmitglieder outen. Strategisch setzten die Taxigewerkschaften darauf, die Regierung über öffentlichen Druck dazu zu bewegen, Uber aus Argentinien fernzuhalten. Die traditionelle Federación nacional de conductores de Taxistas setzt dabei sogar auf ein Bündnis mit der Regierung Macri. Ihr Vorsitzender, José Ibarra, kandidierte bei den Provinzwahlen 2017 für die Macri-Partei Cambiemos . Aber auch die linke Taxigewerkschaft, die Asociación de taxistas de capital, tut sich schwer mit den Organisierungsbemühungen von Uber-Fahrer*innen. Für sie ist die Gründung von APP eine betriebssyndikalistische Verirrung, die die Einheit der Arbeiter*innenbewegung gefährdet.

Darauf zu hoffen, milliardenschwere Multis wie Uber mittels öffentlichem Druck aus dem Land zu jagen, hält Anwalt Ottaviano für eine grundlegend falsche Strategie und wenig erfolgversprechend. Angesichts der finanziellen Möglichkeiten von Uber, dessen Wert aktuell auf über 120.000 Milliarden Euro geschätzt wird, und einer bis in die Knochen korrupten argentinischen Regierung, klingt das durchaus logisch. Stattdessen plädiert er, um eine Entprekarisierung der Jobs zu kämpfen. «Das heißt vor allem, dass wir uns um die Anerkennung des Status der Arbeiter*innen, um ein festes Einkommen, eine Begrenzung des Arbeitstages, eine Unfall- und Krankenkasse sorgen müssen», sagt Ottaviano.

Welle der Solidarität

Ende Januar 2019, zwei Monate nach dem Überfall, hat sich die Situation für die junge Gewerkschaft etwas entspannt. Auch wenn APP noch immer nicht offiziell vom Arbeitsministerium als Gewerkschaft anerkannt wurde, weshalb sie sich bisher noch auf die Beratung von entlassenen oder verunglückten riders konzentrieren. Zudem hat beinahe die gesamte Gewerkschaftsführung ihren Job verloren. Um Geld zu verdienen, fahren sie unter falscher Identität weiter.

«Das dringlichste Problem ist, die Einkommensausfälle unserer gekündigten Mitglieder zu kompensieren, sie vor Angriffen zu schützen und Ressourcen für Gewerkschaftsaktivitäten zu generieren», sagt Fierro. Hoffnung macht ihr die riesige Welle der Solidarität, die sie in den vergangenen zwei Monaten erfahren haben. Aktivist*innen wie Anwalt Ottaviano leisten Rechtsbeistand oder übernehmen die Pressearbeit. Überhaupt ist das Medienecho auf die Gewerkschaftsgründung enorm. Inzwischen kommen auch die großen Gewerkschaftsdachverbände auf APP zu. Es gab bereits Gespräche mit dem Chef des größten Dachverbandes, CGT, Héctor Daér, sowie mit Hugo Yasky von der linken CTA. Letztere liefert auch logistische Unterstützung. Und was noch wichtiger ist: «Wir haben das Gefühl, dass sie sich mit unseren Themen auseinander setzen.»
 

Literatur:
  • Animento, Stefania, Giorgio Di Cesare & Cristian Sica, 2017: Total Eclipse of Work?, in: PROKLA - Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 47(187), 271–90
  • Gätze, Susanne, 2018: Argentinien: Tango am Abgrund, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/2018, 25-8
  • Dörre, Klaus, 2013: Prekarität und exklusive Solidarität. Handlungsfelder von Gewerkschaften und öffentlicher Soziologie, in: Sozialismus 40(12), 9-18
  • Palma, Georgia (2017): Foodora & Co.: Die Revolte der neuen Dienstbotenklasse, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/2017, 29-32

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