Dokumentation Nicos Poulantzas: Eine Einführung

Rückblick auf den Vortrag von Dr. Alexander Gallas (Universität Kassel) zu Staatstheorie, Klassentheorie und demokratischer Sozialismus

Information

Zeit

09.03.2020

Nicos Poulantzas lebte von 1936 bis 1979. Er wurde in Athen geboren, studierte Jura in Paris und promovierte dort. Eine Rückkehr nach Griechenland zur Zeit des Militärputsches war schwer, weshalb Poulantzas in Frankreich blieb. 1968 trat er der eurokommunistischen Partei „KKE tou Esoterikoú (KP des Inlands)“ bei und wirkte als Soziologe im französischen Vincennes, wo seine Debatte mit dem marxistischen Staatstheoretiker Ralph Milibrand begann, dessen Staatstheorie kurz vor Poulantzas Selbstmord 1979 veröffentlicht wurde. Das Wirken und Arbeiten von Poulantzas wurde vor allem von der Krise der politisch-ökonomischen Nachkriegsarrangement, der Krise des Marxismus und dem Aufstieg der neuen sozialen Bewegungen geprägt.

Poulantzas Staatsverständnis geht auf Ferdinand Lassalle zurück: Der Staat war vor allem Regulierungsapparat und Hüter des Allgemeinwohls. Poulantzas Staatstheorie lässt sich in die Zeit der Entstehung neomarxistischer Theorien einordnen, die sich vor allem mit der Frage auseinandersetzen mussten, warum es im Kapitalismus überhaupt einen Staat gab, der als von den Produktionssphären losgelöste Instanz auftritt?

Für Poulantzas ist klar: die kapitalistischen Produktionsverhältnisse sind vom Interessengegensatz à la Karl Marx geprägt. Poulantzas hebt hervor, dass es Kapitalismus nur geben kann, wenn es dazu Recht gibt, das Eigentum schützt. Trotzdem gibt es eine Trennung von ökonomischer und politischer Herrschaft. Innerhalb des Staates entsteht nach Poulantzas durch den „Vereinigungsmechanismus“ auf der Kapitalseite ein Machtblock, der von einer Kapitalfraktion angeführt wird. Den Subalternen kommt hier die Rolle des „Spaltungsmechanismus“ zu. Recht und Staat haben auch Einfluss auf die Arbeiter*innenklasse. Poulantzas sieht eine Entschleunigung der Klasse durch den staatlichen Rahmen, woraus zum Beispiel Tarifkämpfe vielmehr zu Tarifritualen verkommen. Die Arbeiter*innenklasse ist zwar irgendwie in den Staat eingebunden, doch fehlt ihr der Zugang zum „harten Kern“, wie Gallas es bezeichnet. Er fasst Poulantzas Staatsverständnis als Ausdruck von Kämpfen auf, bei denen er aber immer die Kapitalseite begünstigt:

„[Der kapitalistische Staat als] ein Verhältnis genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt.“ (Poulantzas)

Für Poulantzas ist der Ausweg aus diesem kapitalistischen Staat ein demokratischer Sozialismus. Für Poulantzas kann es den Sozialismus nur durch Demokratisierung geben. Für die Präsenz der Arbeiter*innenklasse im Staat sind Verfahren der repräsentativen Demokratie wichtig. Gleichzeitig muss es aber auch Bewegungen geben, die genug Distanz zum Staat wahren. Für Poulantzas sind weder Reform noch Revolution ausschlaggebend für einen demokratischen Sozialismus, sondern es ist ein fortlaufender, ständig andauernder Prozess des demokratischen Aushandelns - eine radikale Transformation. Sie erfordert eine Demokratisierung des Staates und der Gesellschaft inklusive der Produktion, sie muss die Vertiefung der Widersprüche im Staat fundamental verändern und sie darf repräsentativ-demokratische Verfahren nicht abschaffen, sondern muss sie erweitern. Spezifisch für Poulantzas Transformationsbegriff ist ihr Prozesscharakter so Gallas:

„Die Geschichte selbst hat uns bis heute kein gelungenes Experiment des demokratischen Wegs zum Sozialismus gegeben. (…). Daraus kann man natürlich immer im Namen irgendeines Realismus (…) folgern, dass kein demokratischer Sozialismus existiert, weil er unmöglich ist. Vielleicht ist es so. Wir haben keinen millenaristischen Glauben mehr, der sich auf die ehernen Gesetze einer unausweichlichen demokratischen und sozialistischen Revolution gründete – und auch nicht die Unterstützung, die uns ein Mutterland des demokratischen Sozialismus geben könnte. Aber eines ist sicher: Der Sozialismus wird demokratisch sein oder gar nicht.“ (Poulantzas)

Poulantzas Theorien dürften für die noch heute existierenden Anhänger*innen eines demokratischen Sozialismus Balsam auf die Seele sein: „Der Sozialismus wird demokratisch sein oder gar nicht“, sind so schöne klare Worte, dass man sich doch am liebsten direkt dahinter versammeln möchte. Doch ein demokratischer Sozialismus des 21. Jahrhunderts – und das wurde implizit bei der an den Vortrag anschließenden Diskussion klar – hat das Problem des ausufernden globalisierten Finanzmarkt-Kapitalismus. Poulantzas Vorschläge – zum Beispiel Betriebe in Arbeiter*innenhände zu geben – klingen gut und sind erstrebenswert. Doch was, wenn die Betriebsführung in den USA sitzt und keinerlei Tarifverhandlungen führen wird? Oder die Gewerkschaften den Arbeitsmarktverhältnissen und damit modernen Formen der Beschäftigung hinterher hecheln und eigentlich nur noch die wohlsituierten zufriedenen Teile der Arbeiter*innenklasse vertreten und zum Beispiel die Massen an Leiharbeiter*innen nicht vertreten?

Die Globalisierung, der Rechtsruck und am Ende 30 Jahre neoliberaler Kapitalismus zwingen dazu, Poulantzas sehr auf den Nationalstaat ausgelegte Vision zu erweitern. Auch sollte überlegt werden, den demokratischen Sozialismus weiterzuentwickeln und ihn zu einem demokratischen, feministischen, antirassistischen und klimagerechten Sozialismus umzutaufen. Doch dann war es das mit den einfachen und klaren Worten, hinter denen man sich vereinigen möchte. Dafür brauch es am Ende vielleicht eine populäre linke Volkspartei, die nicht vom Schießbefehl, dem Zugehen auf rassistische Faschisten, dem ehemaligen realen Sozialismus oder der Vorstellung einer Revolution à la Marx sinniert. Und es braucht Bewegungen, die den Parteien von Zeit zu Zeit auf die Finger hauen.

Julian Degen