Dokumentation Neogramscianische Internationale Politische Ökonomie – eine Einführung

Bericht vom Online-Vortrag mit Prof. Dr. Hans-Jürgen Bieling (Universität Tübingen)

Information

Zeit

12.10.2020

Nach der Sommerpause setzten wir unsere Veranstaltungsreihe ‚Marx am Montag‘ fort und hatten dafür – pandemiebedingt nur digital – Prof. Dr. Hans-Jürgen Bieling (Universität Tübingen) zu Gast, der zu gramscianischen Ideen in der Internationalen Politischen Ökonomie referierte. Ins Detail ging es dann im Gespräch zwischen Professor Bieling und Prof. Dr. Oliver Kessler (Universität Erfurt).

Bieling leitete seinen Vortrag damit ein, zu betonen, dass die Neogramscianische Internationale Politische Ökonomie (IPÖ) ein sehr lebhafter Strang innerhalb der Internationalen Beziehungen (IB) ist, in dem versucht wird, die Konzepte Gramscis für die IB nutzbar zu machen.

Zu Beginn seines Vortrages stellte Bieling den noch einmal den Ansatz Antonio Gramscis vor, den wir in der Reihe ‚Marx am Montag‘ bereits behandelt haben (https://th.rosalux.de/dokumentation/id/41086/antonio-gramsci-eine-einfuehrung?cHash=74a4aeeb2db819674f6ede5773c010fd), und fokussierte dabei auf dessen Rolle als Erneuerer des marxistischen Denkens. Ausgangspunkt von Gramscis Denken war die Frage, warum der Faschismus und nicht die Revolution in Mittel- und Südeuropa gewann. Im Großen und Ganzen legte Bieling darauf aufbauend die Grundüberlegungen der Neogramscianischen IPÖ dar, bevor er auf unterschiedliche Stränge innerhalb der Neogramscianischen IPÖ einging, wie zum Beispiel den transnationalen Strang um die Amsterdamer Schule oder den kritisch-realistischen Strang.

Abschließend stellte Bieling die Frage, in welcher Weise heute aus einer Neogramscianischen Perspektive eine Zeitdiagnose mit Blick auf die IPÖ gegeben werden kann. Hier kam er zum Schluss, dass die Neogramscianische IPÖ lange Zeit von den 80er bis in die 2000er herein vor allem die Entfaltung der Globalisierung in den Blick genommen und hauptsächlich die Herausbildung neoliberaler Hegemonien analysiert habe. Heute aber habe sich – so Bieling – nach der Finanzkrise 2008 und jetzt wahrscheinlich auch der Covid-Pandemie der Fokus verlagert, wobei die Rolle Chinas und auch die der Hightech-Technologien ideologisch und materiell stärker in den Fokus der Neogramscianischen IPÖ gelangten. In Folge habe sich auch die Sichtweise auf die Rolle des Staates geändert. Dessen Rolle als Entwickler werde ernster genommen wird. Eine dritte Veränderung sieht Bieling darin, dass zur Kenntnis genommen wird, dass es immer mehr globalisierungskritische Massenbewegungen gibt.

Der Vortrag zusammen mit dem daran anschließenden Gespräch zwischen Bieling und Kessler schaffte es in kurzer Zeit die Komplexität der Neogramscianischen IPÖ zusammenzufassen. Am Ende und auch im Gespräch wurden zudem aktuelle Gemengelagen der internationalen Politik angerissen. Hier ging es nicht nur um die Rolle Chinas, sondern vor allem darum inwieweit sich durch das Aufstreben Chinas geopolitisch auch das transatlantische Verhältnis zwischen den USA und der EU verändert.

Der Vortrag zeigte sehr gut auf, wie mensch sich den gravierenden Veränderungen unserer Zeit und die in immer kürzer werdenden Abständen aufkommenden Krisen theoretisch annähern kann. Nach nun einigen Vorträgen und der intensiveren Auseinandersetzung mit Gramsci drängt sich der Eindruck auf, dass die ewig wiederholte Floskel: „Die neoliberale Hegemonie zerbricht“ nicht ausreicht, um die derzeitige Situation einzuschätzen. Denn spannend ist hierbei auch das von Gramsci gezeichnete Bild der „Zeit der Monster“, in der eine alte Hegemonie zerbricht, die neue sich bildende aber noch nicht erkennbar ist. Die Neogramscianische IPÖ ist ein geeignetes Feld, sich genau das vor Augen zu führen und theoretisch zu überlegen, welche geopolitischen Machtverhältnisse sich herausbilden könnten.   

Wer jetzt Lust bekommen hat die Diskussion nachzuverfolgen und die „Einführung in die neogramscianische Internationale Politische Ökonomie“ selbst zu hören: Der Vortrag wurde aufgezeichnet und ist auf unserer Facebookseite verfügbar.

https://www.facebook.com/579027445452744/videos/405122160492910

Julian Degen

Mitarbeiter Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen