Dokumentation Sozial-Ökologischer Neustart in Thüringen

Dokumentation der digitalen Tagung am 2. Februar 2021

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Zeit

02.02.2021

Gemeinsam mit Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen und Friedrich-Ebert-Stiftung Landesbüro Thüringen luden wir am 2. Februar in einer digitalen Tagung zur Diskussion über einen Sozial-Ökologischen Neustart in Thüringen ein.

In drei Workshops zu den Themenfeldern sozial-ökologischen Wandels Frühkindliche Bildung, Wirtschaft sowie Gesundheit & Pflege diskutierten 52 Teilnehmer*innen. Je eine Landesstiftung verantwortete ein Themenfeld und das jeweilige Fachgespräch. Die Böllstiftung und ihre geladenen Gesprächspartner*innen diskutieren über Frühkindliche Bildung, die Ebertstiftung über Wirtschaft und wir als Luxemburgstiftung über Gesundheit und Pflege.

Mit der Tagung holten wir die Debatte nach, die am 3. November 2020 leider pandemiebedingt in großen Teilen ausfallen musste. Damals konnten wir nur das aufgezeichnete Interview mit Prof. Silke van Dyk veröffentlichen. Im Dezember folgten Videointerviews mit Phlipp Motzke von ver.di und Ralf Plötner von der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag im durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen verantworteten Themenfeld Gesundheit & Pflege. Diese Videos finden Sie in unserer YouTube-Playlist: https://www.youtube.com/watch?v=P6QR_dilv5c&list=PLPI5h6LyLZYXFc5uQfoPWVVnefqd3Wt7H

Im Folgenden dokumentieren wir die Diskussion unseres Fachgesprächs zum Themenfeld Gesundheit & Pflege im Rahmen der Tagung.

Im WS 2 „Neustart bei Gesundheit & Pflege“ wurde rege über die Pflege- und Gesundheitskrise gestritten. Unterschiedliche Perspektiven trafen aufeinander und trugen zu einem kontroversen Gespräch über die Zukunft des Sektors bei. Allerdings zeichnete sich die Schwierigkeit für aktive Streiter*innen im Sektor ab, sich von dessen Problemen zu lösen und die konkrete Vision eines Neustarts in den Blick zu nehmen.

Zum Eingang des Workshops wurden die Teilnehmer*innen gefragt, was sie als das größte Problem des derzeitigen Gesundheits- und Pflegesystems benennen würde. Dabei zeigte sich die Heterogenität der Zugänge. Von der Interessenvertretung pflegender Angehöriger über das Bündnis Krankenhaus statt Fabrik, die AOK Plus bis zu sozialpolitischen Vertretung des Verbands der Wirtschaft Thüringens spannte sich die Herkunft der Teilnehmer*innen. Entsprechend divers waren die eingebrachten Perspektiven. Einerseits wurde die Ökonomisierung des Gesundheits- und Pflegebereichs als Gefahr für die Daseinsvorsorge bezeichnet, der Fachkräftemangel und die zunehmende finanzielle Belastung der zu Pflegenden und ihrer Angehöriger beklagt. Andererseits wurde in Frage gestellt, wie angesichts des steigenden Bedarfs und der öffentlichen Debatte um Forderungen des Bereichs die Finanzierung der Expansion des Pflegesektors auf Dauer gesichert werden könne. Auf Effizienzreserven wurde angesichts zu wenig Zusammenarbeit der Bereiche und Professionen verwiesen. Die Probleme seien daher mit selbst verursacht. Hinzu kam die Kritik, dass sowohl pflegende Angehörige in der Debatte zu wenig Beachtung fänden sowie die Frage nach dem Erhalt der Mündigkeit der Patient*innen und der Berücksichtigung ihrer Wünsche, die im System verloren zu gehen drohen.

Im Gespräch bat Melanie Pohner die geladenen Gesprächspartner*innen, um ihre Einschätzung eines Neustarts. Einig waren die geladenen Gesprächspartner*innen sich darin, dass der Schlüssel in der Aufhebung der Ökonomisierung des Sektors gesucht werden müsse. Gerade der Pflegeversicherung als Teilkaskoversicherung komme dabei für die ambulante Pflege zentrale Bedeutung zu. Aus Perspektive des Krankenhauses wiederum wurde vor allem auf die Fallkostenpauschalen abgehoben.

Nadja Rakowitz vom Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte und aktiv in der Bildungsarbeit von ver.di wie dem Bündnis Krankenhaus statt Fabrik hob in diesem Zusammenhang hervor, dass der heute beklagte Fachkräftemangel Folge eines gezielten Arbeitsplatzabbaus im Gesundheitsbereich gewesen sei. Ökonomische Effizienz sei das Leitmotiv gewesen, zu dem etwa Privatisierungen gepasst hätten. Mit der deutlichen Sichtbarkeit der Pflegekrise und jetzt in der Coronakrise sei die Debatte jedoch gekippt. Das Selbstkostendeckungsprinzip sei wieder in der Debatte und befinde sich in Teilen auch wieder in Anwendung. Eine Abwendung von der Fallpauschalen habe begonnen. Aber auch das Selbstkostendeckungsprinzip habe etwa bei medizinisch unnötigen Eingriffen Schwächen. Aus ihrer Perspektive brauche es noch einen Schritt weiter: Ein Verbot der Gewinnerzielung.

Maria Rüthrich unterstützte diese Perspektive als Assistenzärztin am Universitätsklinikum Jena (UKJ). In der derzeitigen Situation, in der medizinisches und pflegerisches Handeln ökonomischer Effizienz unterworfen sei, werde intrinsischer Antrieb für den Beruf untergraben. Es müssten daher wieder Anreize – und dies bedeute vor allem auch Zeit - geschaffen werden, diesen wieder mit Herzblut auszuführen. Ein gutes Beispiel für solche Anreize sei der Tarifvertrag am UKJ, der eine Entlastung des pflegenden Personals wie einen erhöhten Personaleinsatz vorsieht. Diese Elemente müssten zu einem Neustart gehören.

Ein ähnliche Perspektive wie die Debatte über Fallpauschalen nahm Jörg Kubitzki für die ambulante Pflege ein. Mit der Einführung der Pflegeversicherung als lediglich Teilkasko sei ein doppelter Druck geschaffen worden. Einerseits wurde Druck auf die Personalkosten ausgeübt und andererseits sei die finanzielle Belastung der zu Pflegenden und ihrer Angehörigen einkalkuliert worden. Kernelemente eines Neustarts seien daher für ihn mehr Geld im System Pflege sowie eine Entlastung der Pflegebedürftigen. Ohne eine Pflegevollversicherung als Bürger*innenversicherung sei dies nicht zu realisieren. Dies gelte auch für die Digitalisierung, deren Erfolg in der Pflege auch an vorhandenen Ressourcen scheitere. Die grundsätzliche Reform der Finanzierung brauche es dementsprechend. Außerdem müsse der Fachkräftemangel überwunden werden. Dabei ginge es neben der Bezahlung auch um die Vereinbarkeit von Freizeit und Arbeitszeit in Folge der besseren Planbarkeit der Arbeitszeit. Ohne mehr Personal sei dies nicht zu machen. Deshalb mindere der Fachkräftemangel derzeit auch die Attraktivität des Berufsfelds weiter, da auf die derzeit dort Beschäftigten mehr Anforderungen zukommen.

Ralf Plötner schloss sich dem Plädoyer für eine Bürger*innenversicherung auf Bundesebene an und erweiterte dieses Konzept auf Pflege- wie Krankenversicherung. Wichtig sei aber auch, Einrichtungen in öffentlicher Hand zu behalten bzw. wieder zu bringen. Viele Beispiele von in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Häusern hätten gezeigt, dass in solchen Fällen Schulden vergemeinschaftet werden, um die Daseinsvorsorge zu stabilisieren. Gleichzeitig werde in profitablen Bereichen der Profit privatisiert oder sei sogar in einzelnen Beispielen vor einer Krisenphase privatisiert worden, um dann später die Risiken zu vergesellschaften.

In den folgenden Beiträgen wurden diese Aspekte weiter ergänzt. U.a. wurden die Pflegenden Angehörigen als „Auffangbecken“ des ökonomisierten Pflegebereichs bezeichnet.

In der Debatte prallten dann vor allem die Perspektiven auf die Finanzierung des Systems bzw. dessen Schwächen als Folgen der Ökonomisierung und Vorbehalte gegen eine finanzielle Expansion des Sektors aufeinander. Kern der Kontroverse war, ob die Forderungen aus dem Sektor heraus richtig adressiert seien und eine realistische Perspektive aufwiesen. U.a. wurde seitens des Vertreters des Verbands der Wirtschaft Thüringen auf die Entlastung der Kommunen durch die Pflegeversicherung verwiesen. Diese hätten sich wie das Land auch aus der Beteiligung an Investitionskosten weitgehend zurückgezogen. Hier seien noch Ressourcen vorhanden. Gleichzeitig wurde seitens des Vertreters der AOK auf bisherige Defizite in der Landespolitik hingewiesen. Es sei keineswegs nur auf Bundesebene einzugreifen. Im Pflegereferat des Ministeriums habe lange Personalmangel geherrscht, der jetzt behoben worden sei, und es gebe immer noch Probleme bei den Pflegestützpunkten. Zudem drohten Beitragssteigerungen in Folge von Corona und anderen Entwicklungen. Dies führe traditionell zu Verteilungskämpfen, die die Spielräume für eine Expansion des Sektors einschränkten. Beides wurde von Kritiker*innen der Ökonomisierung angezweifelt. Jörg Kubitzki verwies noch einmal darauf, dass die Pflegeversicherung eingeführt worden sei, um Pflegebedürftigen das Abrutschen in die Sozialhilfe zu ersparen und nicht, um die Kommunen zu entlasten. Diese hätten anderweitig Einschnitte bekommen. Zudem sei bereits jetzt die Gefahr der Sozialhilfe bei Pflegebedürftigkeit für Viele erneut da. Aus Sicht dieser müsse dringend gehandelt werden. Und Nadja Rakowitz betonte, dass Verteilungskämpfe nach Corona nur ausbrächen, wenn das Finanzierungskonzept bleibe wie es ist. Die Bürger*innenversicherung nehme aber grundsätzliche Veränderungen vor, da sie neue Finanzierungsquellen einbezöge und damit Verteilungskämpfe verhindere.

Unter großem Zeitdruck wurde zum Schluss versucht, den Ausblick auf den Neustart etwas konkreter zu gestalten. Nadja Rakowitz verwies dazu noch einmal auf die Erfolge, die bereits errungen seien. So sei das Selbstkostendeckungsprinzip wieder in der Diskussion auch durch Krankenhausbetreiber*innen. Hier gebe es möglicherweise gerade ein Zeitfenster, das es zu nutzen gelte. Zudem sei der auf Bundesebene durch das Gesundheitsministerium in Folge von Arbeitskämpfen und der Debatte um die Pflegekrise veranlasste Pflegeschlüssel ein weiteres Element. Überhaupt seien gerade die Kämpfe der Beschäftigten ein vielversprechender Weg zu Veränderungen. Maria Rüthrich hatte zudem auf den Tarifvertrag am UKJ hingewiesen. Diese ersten Schritte zu einem nicht profitorientierten Gesundheits- und Pflegesektor gelte es weiter zu verfolgen. Jörg Kubitzki ergänzte, dass es für den Fachkräftemangel zudem auch kurzfristige Möglichkeiten gebe, indem Fachpersonal aus der Verwaltung freigemacht werde und dort Kolleg*innen eingesetzt würden, die altersbedingt in der unmittelbaren Pflege nicht mehr einsetzbar wären. Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit musste der Workshop an dieser Stelle leider enden, so dass weitere Eckpunkte nicht zur Ausarbeitung kamen.

Grundsätzlich zogen aber trotz offener Fragen, die Teilnehmenden ein positives Fazit des Austauschs. Durch die heterogene Zusammensetzung der Teilnehmer*innen fand - wie konzeptionell gedacht - ein intensives Fachgespräch statt. Der Workshop ist dementsprechend gut gelungen. Gleichzeitig zeigten die noch offenen Fragen, dass die Debatte, in der etwa die aktuelle Situation in der Pandemie kaum vorkam, nach Fortsetzung verlangt.

Die Ergebnisse von Workshop 1 zu Frühkindlichen Bildung finden sich auf der Seite der Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen: https://www.boell-thueringen.de/de/2021/02/15/sozial-oekologischer-neustart-thueringen

Die Ergebnisse von Workshop 3 zu Wirtschaft der Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Thüringen sind hier nachzulesen: https://www.fes.de/landesbuero-thueringen/artikelseite-landesbuero-thueringen/rueckblick-sozial-oekologischer-neustart-in-thueringen