Dokumentation Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer Perspektive

Ein Bericht der Veranstaltungen am 01.06.22 in Jena und am 02.06.22 in Erfurt von Anika Färber

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„DDR überforscht“!? versus migrantisches Leben in der DDR: „darüber gibt es nichts!“

Das Gesellschaftsbild ist widersprüchlich, sagt Dr. Patrice G. Poutrus (Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik, Universität Erfurt). „Wir wissen wenig, was es an Wissen eigentlich gibt.“

Darum hat sich das Projekt „Erinnern stören“ gegründet, welches den Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive beleuchtet. Die Mitherausgeberin des gleichnamigen Buches Lydia Lierke saß auch mit in der Gesprächsrunde in Jena und Erfurt am ersten und zweiten Juni. 

Das Leben von Migrant*innen war auch in der DDR omnipräsent – es hat nur nicht so recht innerhalb der Gesellschaft stattgefunden. Gelebt haben hier allerdings keine unbeachtlichen Zahlen von Gastarbeiter*innen und sowjetischen Bezugssoldaten. Trotz Völkerfreundschafts-Argumentation hat es die DDR wohl kaum geschafft andere Beziehungen wie die BRD herzustellen. Die Abstufung von Privilegien, die schon zuvor in der Vertragsarbeit präsent war, nahm nach dem Mauerfall weiter zu und prägte u.a. die Rückführungen bei den Hinterbliebenen aus den „Bruderstaaten“.

Die Kinder der Migrant*innen-Generation reden heute darüber was damals sozialpolitisch gewesen ist, als ihre Eltern mit der Existenzsicherung beschäftigt waren. Die Zeit nach der Wende, insbesondere die erste Hälfte der 90ger Jahre, war „ein Jahrzehnt der Ungewissheit“ für die meisten DDR-Migrant*innen. Ethnische-Ökonomien haben viele zumindest wirtschaftlich stabilisiert, wie mit zahlreichen Restaurantgründungen und privaten Familien Unternehmen bis heute sichtbar nachvollziehbar ist. Die Popularisierung des Eierreises mag es schmunzelnd zeigen.

Einzelne konnten sich auch politisch aktiv zeigen, wie die in der Gesprächsrunde anwesende Rea Mauerberger (Iberoamerica e.V.), die seit den kämpferischen Gründungszeiten um ´92 im heutigen Migrationsbeirat Jena sitzt. Für sie war es selbstverständlich sich direkt einzubringen, doch das Teilhaberecht wurde damals wie heute an Staatsangehörigkeit festgemacht. Politischer Aktivismus ist für sie wie für die Meisten nur außerhalb von Parteien möglich gewesen, um für ihre Rechte einzutreten. Und das in einer Zeit, die unmittelbar nach und mitten in rechter Gewalt stattfand. Zu denken ist hier an die rassistischen Pogrome und Mordanschläge in Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen, aber auch an Gewalttaten ohne Schlagwortnamen: Angriffe wurden von Neonazis angekündigt und anschließend ausgeführt, wie die Initiative 2.Oktober90 heute aufarbeitet. All das eröffnet einen anderen Blickwinkel auf „die friedliche Revolution“.

Im Gespräch in Erfurt wird die Frage aufgeworfen: „Was bedeutet es also in einer post-nationalsozialistischen Gesellschaft zu leben?“. „Post“ bedeutet hier so viel wie „was wirkt noch nach?“ und kann in Wendezeiten wie heute Antworten auf die Frage „Was ist der Grund für die Feindlichkeit heute, die sich von Rechts bis in die Mitte der Gesellschaft reinzieht?“ geben. Aussagen wie „Unsere Stadt ist vielfältiger als dieses Ereignis“ (hier rechte Gewalttat x einfügen) dienen als Umkehr der Erzählungen und die Opfer geraten so in den Hintergrund. Der Zorn darüber kommt im Buch & Projekt „Erinnern stören“ deutlich hervor und ist ein Umgang damit, dass die Umstände so waren wie sie waren, wie Lydia Lierke im Gespräch immer wieder mit Bezug auf einzelne Beiträge deutlich macht. „Der Rassismus-Begriff durfte damals in Debatten nicht fallen – dann waren sie vorbei“, sagt der in Ost-Berlin aufgewachsene Patrice Poutrus. „Dabei hätten sie da erst anfangen müssen.“

Das Buch fragt nach Widerständen und Wiedersprüchen. Die jüdische Perspektive auf den Mauerfall am 9.November.1989 ist mit Blick auf selbigen Tag 1939 eine andere als die der deutschen Dominanzgesellschaft und deren Geschichtsschreibung.

Eine weithin auch gegenwartsbezogene und kurdische Perspektive gibt Havva Torlak aus Erfurt, die in der Nachwendezeit um 2002 nach Erfurt kam und eine andere Dimension der Ausländerfeindlichkeit wahrnahm. Das Wegrennen vor augenscheinlichen Neonazis war Teil ihrer deutschen Sozialisierung. Eine andere Realität erlebte sie nach 2014, wo der Rassismus „salonfähiger“ geworden sei. Darüber hinaus sei die heutige Doppelmoral der EU schlichtweg verletzend. Sich „wertlos fühlen“, weil man scheinbar nicht die richtige Migrant*in war.

All das bereitete bei den beiden Gesprächsrunden viel Raum zum Reflektieren und machte Aufmerksam auf die zahlreichen Erzählungen im Sammelband „Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive.“

Weitere detaillierte Ausführungen sind im Radio F.R.E.I. Interview mit Volker Hinck zu hören:

https://www.radio-frei.de/index.php?iid=podcast&ksubmit_show=Artikel&kartikel_id=9322