Nachricht | Der Mann hinter Rosa Luxemburg

Zum 100. Todestag von Leo Jogiches

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Leo Jogiches, Jg. 1867, zählt zu den weithin Vergessenen der internationalen Arbeiterbewegung. Auf dem Friedhof der Sozialisten in Friedrichsfelde hat es sich immerhin nicht ganz vermeiden lassen, den Namen des bei den Marxisten-Leninisten, alias Stalinisten, ungeliebten ersten KPD-Führers, der Jogiches nach der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht bis zu seiner eigenen Ermordung am 10. März 1919 war, wenigstens zu erwähnen: auf einer Sammeltafel. Kleiner ging es nicht. Und das, obwohl es ohne Leo Jogiches (und Mathilde Jacob) organisatorisch die Spartakusgruppe nie gegeben hätte.

Dass Jogiches zwischen 1906 und 1912 die Sozialdemokratie des Königreiches Polen und Litauens (SDKPiL) – die in dieser Zeit ein assoziiertes Mitglied der russischen Sozialdemokratie war – im Zentralkomitee der russischen Partei vertrat, findet man allenfalls in Spezialliteratur. Und dass dieser unbestechliche Revolutionär – früher hätte man gesagt: ein Revolutionär von echtem Schrot und Korn – Lenins Gegenspieler war, findet man noch seltener.

In Lenins «Dogmatik der Antidogmatik» (Paul Levi) waren sich beide einig. Dass aber Lenin zudem völlig skrupellos den permanenten Vertrauensbruch gegenüber all jenen praktizierte, die sich nicht auf seine (a-)moralischen Spielregeln einließen – aus dem Diktum heraus: die Gesellschaft ist amoralisch, also können wir sie nur amoralisch besiegen –, hat Jogiches still und verbissen stets energisch bekämpft. Leo Trotzki hingegen hat Lenin deswegen bis 1914 immer wieder öffentlich der schlimmsten Amoral bezichtigt – das haben Trotzkis Feinde nach Lenins Tod zu nutzen gewusst. Am Ende traf Trotzki, der in der Zeit gemeinsam mit Lenin an der Macht Leninsche Politik betrieben hat, Stalins Eispickel…

Auch die Politikerin Rosa Luxemburg hätte es ohne Leo Jogiches nicht gegeben, zumindest nicht so gegeben. Zwei Jahre, bevor sich Rosa Luxemburg einen deutlich erträglicheren Geliebten suchte, schrieb sie an Jogiches:

«Insbesondere verhaßt wurde mir auch die ganze ›Politik‹, derentwegen ich […] die Briefe von Vater und Mutter wochenlang nicht beantwortete, nie für sie Zeit hatte wegen dieser weltbewegenden Aufgaben (und das dauert bis zum heutigen Tage an), und Du wurdest mir verhaßt als derjenige, der mich für immer an diese verfluchte Politik geschmiedet hat. »

Die politische Beziehung zwischen Rosa Luxemburg und Leo Jogiches war symbiotisch und blieb es auch nach ihrer Trennung. Durch die gemeinsamen Studien an der Zürcher Universität zwischen 1890 und 1897 und nicht minder in den diversen Emigrantenzirkeln in der Schweiz stieg Rosa Luxemburg ­– als unerkannte Schülerin von Leo Jogiches – binnen weniger Jahre zu einer außergewöhnlich gebildeten Marxistin auf. Sie galt nicht nur sehr bald als die Theoretikerin – im damaligen Selbstverständnis natürlich als der Theoretiker – der polnischen Sozialdemokratie, sondern verfügte in der Tat über die theoretischen Fähigkeiten einer Spitzenwissenschaftlerin. Trotzdem interessierte sie Theorie an sich nur wenig. Sie schrieb und publizierte zwar schon in ihrer Studienzeit sehr ausgiebig, doch das meiste war politischer Journalismus – er galt der Aktion und nicht der Theorie. Sie wollte wirken, verändern, aufrütteln. Die politischen Schwerpunkte setzte dabei viele Jahre lang nicht sie, sondern Leo Jogiches.

Leo Jogiches – vier Jahre älter als Rosa Luxemburg – war der Sproß einer sehr wohlhabenden jüdischen Familie aus Wilna (Vilnius), hatte schon Jahre konspirativer Arbeit in Litauen und einige Monate Gefängnis hinter sich; außerdem war er aus der russischen Armee desertiert. Jogiches lernte Rosa Luxemburg als Studentin der Zoologie kennen, brachte sie aber schnell zur Nationalökonomie und zur Politik. Er wurde nicht nur Rosa Luxemburgs Mentor in Fragen des Sozialismus, sondern auch ihr erster Lebensgefährte. Als sich ihre private Beziehung, die nie ganz einfach war, um 1907 herum auflöste, blieben sie einander trotzdem, nicht nur politisch, eng verbunden – auch wenn sich Rosa Luxemburg zwischendurch einmal einen Revolver besorgte, um sich den Verstoßenen, der drohte, sie beide umzubringen, vom Hals zu halten. Jogiches war hochgebildet, aber kein Schreibender oder gar ein Theoretiker. Er war ein Revolutionär der Tat, nicht nur mit Autorität, sondern auch autoritär – was ihm besonders während seiner Jugend neben Anerkennung auch manche lebenslange Feindschaft eintrug. Schon mit neunzehn beherrschte Jogiches die Klaviatur des einsamen Konspirateurs: von der illegalen Agitation über das Verfertigen gefälschter Papiere und den Schmuggel Gefährdeter ins Ausland bis zu Streiks, die er ganz allein organisierte. 1887 wandten sich sogar die in Bedrängnis geratenen Hintermänner des Attentats auf den russischen Zaren Alexander III. an den zwanzigjährigen Einzelgänger mit der Bitte, zwei Verfolgte ins Ausland zu verbringen – was Jogiches routiniert erledigte. Dreißig Jahre später, während des Ersten Weltkrieges, lag die Organisation des illegalen Kampfes der Spartakusgruppe gegen das Völkergemetzel auf seinen Schultern; auch er fiel durch Mörderhand: zwei Monate nach Rosa Luxemburg, im März 1919, im Untersuchungsgefängnis in Berlin-Moabit.

Wir dokumentieren im PDF einen Text von Fritz Winguth, der am 2. Februar 1929 einen Text von Bruno Schönlank (1859–1901) als Prolog für die Gedächtnisfeier anlässlich des zehnten Jahretages der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg vortrug.