Ist Gaza denn jetzt bewohnbar? – Das war das Einzige, woran ich denken konnte, als ich den UN-Bericht «Gaza in 2020: A liveable space?» (dt.: Gaza könnte bis 2020 unbewohnbar sein) las, der im August 2012 veröffentlicht wurde.
Fast fünf Jahre nachdem Israel und Ägypten die Blockade über Gaza verhängt hatten, erreichte mich eine Kopie dieses UN-Berichtes. Ich hielt sie in den Händen, betrachtete das Titelbild und blätterte durch die Seiten: viele Nummern und Grafiken und auch vieles, das ich schon wusste. Ich hoffte sehr, dass es sich hierbei nicht nur um einen weiteren Text handelte, in dem wir Bewohner*innen als reine Statistiken abgetan werden. Ich stellte ihn ins Regal, neben andere internationale Berichte über den Gazastreifen.
Fidaa Al Zaanin ist eine palästinensische Aktivistin aus Gaza. Sie forscht zu Gender-Studies und lebt derzeit in Berlin.
Damals musste ich den ganzen Tag an diesen Bericht denken. Insbesondere das Jahr – 2020 – stellte mich vor viele Fragen. War die Welt denn im Jahr 2012 der Ansicht, Gaza sei bewohnbar? Dachten Leute, die nicht in Gaza lebten, Gaza sei 2008 bewohnbar gewesen? Was war für sie ein unbewohnbarer Ort? Was machte einen bewohnbaren Ort aus? Wie würde dieser Bericht einen grundlegenden Wandel bewirken und tiefgreifende positive Auswirkungen auf das Leben der Menschen haben, die in Gaza wohnen – würde er überhaupt etwas an der Situation ändern?
Am Schlimmsten aber fand ich, dass in diesem Bericht kaum etwas stand, was für mich und andere Bewohner*innen Gazas neu gewesen wäre. Es war fast so, als wären die Zustände, in denen wir lebten ein unabwendbares Schicksal. Das Leben auf diesen 365 Quadratkilometern war schon immer so gewesen – es war nie erträglich. Die Menschen sterben langsam, und die Welt wendet ihnen den Rücken zu.
Möglich ist nur ein Über-Leben
In Gaza überleben Palästinenser*innen zwar von Tag zu Tag, ein «Leben» kann man das aber nicht nennen.
Als Palästinenserin, die das Privileg hatte, das kleine Freiluftgefängnis namens Gaza einige Male in meinem Leben verlassen zu können, stellt sich mir die Frage nicht, ob es ein bewohnbarer Ort ist. An einem Ort, wo es kein Trinkwasser und nur drei bis sechs Stunden am Tag Strom gibt (wenn man Glück hat), wo die Wirtschaft kurz vor dem Zusammenbruch steht, extreme Armut herrscht und die Arbeitslosenquote sehr hoch ist, insbesondere unter jungen Menschen. Wo das Meer verschmutzt ist, die Grenzen praktisch geschlossen sind, die Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist und die medizinische Versorgung unzureichend, da kann man nicht leben. Ein Gebiet, das einer Land-, Luft- und Seeblockade unterworfen ist und in dem die Bewohner*innen nicht über ihr eigenes Leben bestimmen können und ein andauerndes Gefühl der Verunsicherung und Ungewissheit haben – so ein Gebiet ist nicht bewohnbar.
Ich verlasse Gaza
Die Blockade schnürt den Bewohner*innen Gazas die Luft ab und es ist keine Änderung in Sicht – ich verlasse Gaza.
Es ist Oktober 2016, vier Jahre nachdem der Bericht veröffentlicht wurde. Es ist ernüchternd, dass kaum etwas unternommen wurde oder unternommen wird, um die Gaza-Blockade zu lockern. Ägypten hat den Grenzübergang Rafah sogar noch weiter eingeschränkt.
Vor acht Monaten habe ich mich eingetragen, um in Rafah die Grenze zu passieren. Ich und weitere Zehntausende auf der Warteliste warten darauf, dass die ägyptischen Behörden unsere Anträge bewilligen und uns ein Reisedatum mitteilen. Wir selber dürfen dieses Datum nicht bestimmen. Wir werden ein bis zwei Tage vor dem zugewiesenen Termin benachrichtigt, müssen unsere Koffer packen, uns von unseren Liebsten verabschieden und abreisen. Ich habe Gaza im Oktober 2016 verlassen.
Es gibt kein Zurück
Die unsichtbaren Narben heilen am schwersten.
Menschen verlassen ihre Länder mit der Gewissheit, dass sie, wenn sie wollen, jederzeit zurückkehren können. Für mich und viele andere Bewohner*innen Gazas bedeutet die Abreise ein unfreiwilliges Exil. Solange die Blockade von Gaza weiter besteht, gibt es kein Zurück.
Zwei Jahre in Berlin. Ein neues Leben. Neuanfänge. Ich habe Gaza zwar verlassen, jedoch lässt mich Gaza und alles, was damit zu tun hat, nicht los. Ich lebe in der Nähe des Flughafens Tegel und halte die Fenster geschlossen, versuche nicht in Panik zu geraten und mich an die Geräusche von Zivilflugzeugen zu gewöhnen. Ich versuche mich auch daran zu gewöhnen, dass ich das Leitungswasser trinken kann oder dass ich in Deutschland von einer Stadt in die andere fahren kann, ohne dabei Militärkontrollpunkte passieren zu müssen.
All diese Dinge, die mir jetzt selbstverständlich erscheinen – selbst kleine Dinge, wie mein Telefon jederzeit aufladen zu können – sollten auch der Generation offen stehen, die nach 2006 in Gaza geboren ist, die drei Kriege überlebt hat und immer noch unter der Blockade lebt.
Den Geschichten aus Gaza Gehör verschaffen
Grundlegende Veränderungen sind nur durch gemeinsames, solidarisches Handeln möglich.
Der politische Aktivismus – vorwiegend in internationalen feministischen Kreisen und mit Organisationen geflüchteter Frauen – ist Teil meines Lebens in Berlin.
Ich verfolge damit vor allem zwei Ziele: Zum einen will ich über feministische Bewegungen in Palästina aufklären, wo Frauen gegen mehrere Systeme der Unterdrückung ankommen müssen. Zweitens will ich Verbindungen mit anderen feministischen Graswurzel-Bewegungen herstellen, mich mit ihren Kämpfen vertraut machen, solidarische Netzwerke bilden und gemeinsam für einen Wandel mobilisieren. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass jeder Schritt vorwärts, den wir hier in Berlin machen, eine positive Auswirkung auf das Leben einer Frau haben wird, die irgendwo anders lebt, auch in Gaza.
Davon abgesehen bedarf es dringend politischer Bemühungen, um die Blockade von Gaza zu beenden. Die Situation dort ist nicht nur eine humanitäre Notlage, sondern eine politische. Sie ist das Resultat unmenschlicher Entscheidungen, die den Palästinenser*innen weiterhin vermitteln, dass ihr Leben weniger wert ist. Aus diesem Grund sollte weltweit, auch in Berlin, mehr Druck auf Politiker*innen ausgeübt werden, und zwar dahingehend, das Ende der Blockade zu fordern und den Stimmen der Palästinenser*innen und ihren Geschichten Gehör zu schenken – denn wir sind nicht bloß Nummern.
[Übersetzung von Charlotte Thießen und Utku Mogultay für Gegensatz Translation Collective]