Analyse | Parteien / Wahlanalysen - Partizipation / Bürgerrechte - Nordafrika «Verfassung der Tyrannei»

Was folgt in Tunesien auf das Verfassungsreferendum?

Information

Proteste gegen die Machtübernahme von Präsident Kais Saied im Juli (Tunis, 14.1.2022)
Proteste gegen die Machtübernahme von Präsident Kais Saied im Juli (Tunis, 14.1.2022) SOPA Images Limited / Alamy Stock Photo

Kais Saied hat Grund zur Freude: sein Verfassungsentwurf, über den Tunesiens Präsident am 25. Juli abstimmen ließ, wurde mit mehr als 94,6 Prozent der Stimmen angenommen. Die niedrige Wahlbeteiligung von nur 30,5 Prozent wurde stillschweigend übergangen, als die Wahlkommission am 16. August die Endergebnisse bekanntgab. Die neue Verfassung sieht eine deutliche Machtverschiebung vom Parlament zum Präsidenten vor. Ehemalige Kompetenzen des Premierministers soll in Zukunft das Staatsoberhaupt ausüben. Kontrollmechanismen gegenüber der Exekutive werden wohl weitgehend abgebaut, NGOs und Opposition befürchten daher ein Abdriften Tunesiens in die Präsidialdiktatur. 

Als Saied sich 2019 als Kandidat ums Präsidentenamt bewarb, konnte der politische Außenseiter mit seinem Werben um Basisdemokratie sogar einen Teil des linken Lagers überzeugen. Doch nach dem Referendum ist von der einstigen Sympathie unter Linken nicht mehr viel übrig: Das Referendum wurde von verschiedenen Seiten boykottiert, so etwa durch die «Koalition zum Boykott des Referendums», der auch die linke Arbeiterpartei angehört. Als Teil des linken Bündnisses «Volksfront» war diese bei den Wahlen 2014 noch stärkste Oppositionskraft. Auch der große Politikverdruss führte dazu, dass 71,9 Prozent der Registrierten am 25. Juli nicht für «Ja» stimmten – etwa, indem sie der Abstimmung fernblieben oder gegen die Verfassung stimmten. 

Nadia El Ouerghemmi ist Projektmanagerin im Nordafrika-Büro der RLS in Tunis, Victor Meuche absolviert dort ein Praktikum und studiert Politik- und Sozialwissenschaften.

Trotz der niedrigen Beteiligung soll der Gesetzestext nun in Kraft treten. Damit geht Kais Saied einen weiteren Schritt im politischen Umbau, den der Präsident seit letztem Sommer vorantreibt. Angesichts einer institutionellen Blockade, der sozialen Krise sowie einer angespannten Pandemie-Situation berief sich Saied damals auf Artikel 80 der Verfassung von 2014. Dieser räumt dem Präsidenten umfassende Befugnisse ein, wenn die Sicherheit oder die normale Arbeitsweise des Staates bedroht ist.

In der Folge setzte Saied am 25. Juli 2021 den Premierminister ab und suspendierte das Parlament. Eigentlich sind bei einer Berufung auf Artikel 80 Konsultationen mit Regierungschef und Parlamentspräsident vorgesehen. Diese erübrigten sich, weil es in Saieds Darstellung ebendiese Institutionen waren, von denen die Bedrohung für den Staat ausging. Eigentlich besteht auch die Pflicht, bei Anwendung von Artikel 80 den Präsidenten des Verfassungsgerichts zu informieren – doch ein höchstes Gericht hat Tunesien nicht, weil sich die oft wechselnden Regierungen in der Vergangenheit nicht auf ein Vorgehen zur Ernennung der Richter*innen einigen konnten. Auch die Frage, ob Saieds Auslegung von Artikel 80 rechtens war, bleibt damit offen. In Ermangelung eines Verfassungsgerichts hatte der Präsident freie Bahn. 

Saied konnte bei der Umsetzung seiner Maßnahmen auf die breite Unterstützung der Tunesier*innen bauen. Seine schnelle Beschaffung von Sauerstoff und Impfstoffen, sowie sein Image des bescheidenen Kämpfers gegen Korruption und Armut verschaffen ihm bis heute eine relativ hohe Beliebtheit. 

Dementsprechend gibt es nach der Abstimmung am 25. Juli 2022 auch keine Hinweise auf systematische Wahlfälschung. Dennoch wird kritisiert, dass die Erarbeitung der neuen Verfassung hinter verschlossener Tür stattfand – gesellschaftliche Akteure wie der größte tunesische Gewerkschaftsdachverband UGTT oder politische Parteien blieben weitgehend außen vor. Der bekannte Jurist Sadok Belaid, der einen ersten Entwurf der Verfassung schrieb, distanzierte sich von der finalen Fassung des Textes. Nach eigenhändigen Änderungen Saieds ebne die Verfassung laut Belaid nun den Weg in eine Diktatur.   

Bereits am 4. Juli bezeichnete die Arbeiterpartei den Verfassungsentwurf als «Verfassung der Tyrannei». Der Zusammenschluss Front de salut national, dem auch die islamistische Ennahda-Partei angehört, schloss sich dieser Einschätzung später an. Auch die UGTT kritisierte, der Text sei nicht das Produkt eines wirklichen Dialogs. Trotzdem sprach die mächtige Gewerkschaft im Vorfeld keine Wahlempfehlung aus. Auch die EU äußerte sich nur zurückhaltend über Saieds politisches Projekt: Brüssels Außenbeauftragter Borrell nahm die niedrige Wahlbeteiligung «zur Kenntnis». Deutlicher war US-Außenminister Blinken, der sich besorgt über den Schutz von Grundrechten zeigte. Beide treibt aber die Sorge um, dass Tunesien sich vom Westen weiter entfernt, was wiederum Russland in die Hände spielen würde, das in Afrika erfolgreich an Einfluss gewinnt.

Zwar ist die Besorgnis groß, das gesicherte Wissen über Tunesiens neues politisches System dafür aber umso kleiner. Konkrete Informationen über die Rolle des Parlaments und des Verfassungsgerichts gibt es kaum – auch, weil die neue Verfassung vage bleibt und sich auf Gesetze beruft, welche erst noch verabschiedet werden müssen. Indizien liefert ein Blick auf Saieds Gesetzesvorhaben, deren Umsetzung in den nächsten Wochen erwartet wird.

Wahlgesetz

Große Priorität hat die Verabschiedung eines neuen Wahlgesetzes, denn für den 17. Dezember 2022 sind Parlamentswahlen angekündigt. Das tunesische Parlament ist seit Ende März dieses Jahres aufgelöst, immer eindringlicher werden daher die Forderungen nach dem neuen Gesetz. Vier Monate vor den Wahlen ist vielen Parteien noch gar nicht klar, ob sie antreten werden. Oder ob sie es noch können – denn unter die hohen Erwartungen an das Gesetz mischt sich auch Angst vor einer Schwächung der Parteien.

Das neue Wahlgesetz wird sie wohl nicht gänzlich ausschließen. Einige befürchten jedoch, dass insbesondere jene Fraktionen vor Hürden gestellt werden, die vor dem 25. Juli 2021 Regierungsverantwortung getragen haben. Saied macht die ehemaligen Entscheidungsträger*innen verantwortlich für das Scheitern der Revolution. 

Eine weitere neue Bestimmung des Verfassungsgesetzes, die durch das Wahlgesetz mit Inhalt gefüllt werden soll, ist die Mandatsentziehung für Abgeordnete. Durch wen und unter welchen Umständen Abgeordnete ihres Amtes enthoben werden sollen, auch das bleibt noch offen. Fest steht aber, dass die Aussicht der Mandatsentziehung ein «Damoklesschwert» ist, welches ein Klima der Angst schaffen könnte. Noch fragiler würde damit die Position der Abgeordneten im politischen System.

Neben der Rolle der Parteien wirft auch der «Rat der Regionen und Bezirke» Fragen auf. Diese zweite Kammer soll im Dezember gleichzeitig mit dem Parlament gewählt werden. Wie dieser Rat zusammengesetzt ist, welche Befugnisse er hat, und in welchem Verhältnis er zum Parlament steht – das alles ist bis heute unklar. Das Wahlgesetz wird diese noch völlig offenen Bestimmungen konkretisieren. 

Verfassungsgericht

Mehrmals betonte Saied in den letzten Tagen auch die Notwendigkeit, nach den Vorgaben der neuen Verfassung ein Verfassungsgericht zu schaffen. Damit hat er insofern recht, als es das Fehlen des Verfassungsgerichts war, welches zur politischen Blockade vor dem 25. Juli 2021 beigetragen hatte. Das höchste Gericht, welches eigentlich fester Bestandteil der Verfassung von 2014 ist, war stets an politischen Querelen gescheitert. Parlament und Präsident der jungen Demokratie waren unwillig, ihre Macht zugunsten einer effektiven Judikative zu teilen.

Saieds Avancen, nun endlich ein Verfassungsgericht einzurichten, machen den Präsidenten aber keineswegs zum Kämpfer für Gewaltenteilung. Denn im Vergleich zur Verfassung von 2014 sind die Befugnisse der höchsten Richter in der neuen Verfassung geschwächt. Auch die Zusammensetzung des Gerichts wirft Probleme auf: es soll aus neun Mitgliedern bestehen – den jeweils drei Dienstältesten aus dem Rechnungshof, dem Kassationshof und den Kassationskammern des Verwaltungsgerichts. Damit wäre in diesem Gremium kein einziger Verfassungsrechtler vertreten. Darüber hinaus würde das Gericht ausschließlich aus älteren Männern bestehen.

Und so wird damit gerechnet, dass es künftig konservative Richter sein werden, welche die Verfassung auslegen werden. Anders als in der Verfassung von 2014 räumt sich Saied von nun an auch die Befugnis ein, die Verfassungsrichter per Dekret selbst zu ernennen, was Befürchtungen der Einflussnahme weckt

NGO-Gesetz

Besorgnis war im Vorfeld des Referendums auch immer wieder aus den Reihen der tunesischen Zivilgesellschaft zu hören. Bereits im Februar 2022 waren Gesetzesentwürfe des Präsidenten durchgesickert, welche eine drastische Beschneidung der Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) vorsahen. Auch wegen internationalen Protests hatte Saied seine Reformvorschläge damals auf Eis gelegt. Nun wird befürchtet, der Präsident könnte seine umfassenden Kompetenzen ausnutzen, um eine Reform des NGO-Gesetzes doch noch durchzupeitschen.

In seiner jetzigen Form gilt das Gesetz über NGOs von 2011 als fortschrittlich. Es garantiert allen in Tunesien lebenden Menschen die Freiheit, unabhängige, zivilgesellschaftliche Vereinigungen zu gründen, ihnen beizutreten und Aktivitäten auszuüben. Die Behörden verpflichten sich, nicht in die Arbeit der Organisationen einzugreifen (Artikel 6), für den Schutz der NGO-Mitglieder vor Gewalt und Bedrohungen zu sorgen und sicherzustellen, dass Organisationen die ihnen durch das NGO-Gesetz vorgesehenen Rechte ausüben können (Artikel 7). NGOs dürfen ausdrücklich selbst ihre Gelder verwalten und Spenden und Schenkungen entgegennehmen – auch aus dem Ausland (Artikel 13).

Was der tunesischen Zivilgesellschaft noch bevorstehen könnte, verrät der geleakte Entwurf aus dem Februar. Der Entwurf sah eine Verkomplizierung der Zulassung von NGOs vor, welche in Artikel 10 geregelt ist. Damit würde ein großer Ermessensspielraum für Behörden geschaffen, Gründungsanträge zu blockieren. Artikel 7 und 13 würden ganz gestrichen, die Sanktionen bei Verstößen gegen die Pflichten der NGOs verschärft. Ein neuer Artikel 38 sah vor, dass für jede Zahlung aus dem Ausland eine schriftliche Genehmigung der Tunesischen Kommission für Finanzanalysen eingeholt werden muss, welche der Zentralbank untersteht.

Seit 2019 verbreitet Saied ein Narrativ der politischen Einflussnahme aus dem Ausland und bringt NGOs mit Terrorismusfinanzierung und Geldwäsche in Verbindung. Tatsächlich existieren die Vergehen, deren Saied NGOs bezichtigt – wenn auch nur marginal. Viel problematischer ist aber die mangelhafte Umsetzung des NGO-Gesetzes durch die Behörden als der jetzige Gesetzestext an sich. Schließlich sind Rechte, Pflichten und Verbote in Bezug auf NGOs darin bereits eindeutig geregelt.

So drängt sich der Eindruck auf, dass es sich bei den Reformplänen vielmehr um einen weiteren Angriff Saieds auf die tunesische Zivilgesellschaft handelt. Sollte der Präsidenten NGOs erneut ins Visier nehmen, wäre das bei Weitem nicht nur für die tunesische Demokratie verheerend. Denn NGOs übernehmen vielerorts auch soziale Dienstleistungen, um die Unzulänglichkeiten des tunesischen Staates auszugleichen. 

Die Organisationen, ihre Mitarbeiter und Auftragnehmer – etwa in Gastronomie, Kunst, Kultur, Transport oder Grafikdesign – machen etwa fünf Prozent des tunesischen BIP aus. Sollten Gelder aus dem Ausland eingeschränkt werden, gibt es kaum Finanzierungsalternativen. Denn öffentliche Gelder sind schmal und werden durch Bürokratie und Korruption verschlungen. Vermutlich würde die soziale Krise in Tunesien damit noch verschärft. Nachdem Saied den Gesetzesentwurf im Februar verworfen hatte, hat der Präsident seine Position zu NGOs in einer Rede trotzdem nochmals bekräftigt. Das Thema ist also noch nicht vom Tisch.

Zwar ist nach dem Referendum noch unklar, wie das neue Wahlgesetz, die Ausgestaltung des Verfassungsgerichts und die NGO-Gesetzgebung genau aussehen werden. Doch zeichnet sich bereits jetzt ab, dass das Narrativ des «Leuchtturms der Demokratie» in Nordafrika und der arabischen Welt mit Blick auf Tunesien wohl überholt ist. Umso gravierender ist es, dass bislang keiner politischen Kraft eine Mobilisierung gelungen ist, die dem politischen Projekt Kais Saieds etwas entgegensetzen könnte.