Interview | Deutsche / Europäische Geschichte - Menschenrechte Wider dem Militarismus!

Jörn Schütrumpf zur Geschichte der Liga für Menschenrechte

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Albert Einstein auf Antikriegsdemo, 1923.
Die bekannteste Person unter den elf Gründer*innen des «Bundes Neues Vaterland», der Vorläufer der «Liga für Menschenrechte», war Albert Einstein; hier auf einer Antikriegsdemo 1923. Foto: picture-alliance / akg-images | akg-images

Aus Anlass des 75. Jahrestags der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte» erinnert der Historiker Jörn Schütrumpf in seinem neuen Buch an die «Deutschen mit Anstand» – unter ihnen Lilli Jannasch, Albert Einstein, Emil Julius Gumbel, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky –, die sich bereits zuvor in der Deutschen Liga für Menschenrechte engagiert hatten. Uwe Sonnenberg, Referatsleiter Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung, sprach mit dem Herausgeber über die Gründungszeit der Liga für Menschenrechte und ihre Akteure.
 

Uwe Sonnenberg: Am 10. Dezember 1948, also vor 75 Jahren, verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UNO) die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte». Sheila Mysorekar, die Vorsitzende des Vereins «Neue deutsche Medienmacher», bezeichnete sie kürzlich als den «größten zivilisatorischen Durchbruch in der Geschichte der Menschheit». Du hast anlässlich dieses Jahrestages ein Buch zusammengestellt. Auf was und auf wen geht diese Erklärung eigentlich zurück?

Diese Erklärung basiert auf den – im Feuer der Französischen Revolution geschmiedeten – Deklarationen der Menschenrechte von 1789 und 1793. Der Entwurf dieser Erklärung stammte von René Cassin und Joseph Paul-Boncour, beides führende Mitglieder der französischen Liga für Menschenrechte. 1922 hatte sie – diese französische Liga – unter Beteiligung der Deutschen Liga für Menschenrechte die »Fédération internationale des ligues des droits de l’Homme«, die Internationale Liga für Menschenrechte, gegründet.

In Deutschland gab es 1922 eine Liga für Menschenrechte? Kannst Du uns mehr zu ihrer Geschichte sagen?

Jörn Schütrumpf
Deutsche mit Anstand
Der »Bund Neues Vaterland« wird »Deutsche Liga für Menschenrechte«
Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxenburg-Stiftung
160 Seiten | Erscheint im Dezember 2023

Ja, Vorgänger dieser Liga war eine ganz kleine Gruppe – zwei Frauen und neun Männer. Sie hatten sich im Berlin des Novembers 1914 unter dem Tarnnamen «Bund Neues Vaterland» zusammengetan. Alles waren Bildungsbürger, die nun zusammen – laut und vernehmlich – gegen den in der deutschen Bevölkerung grassierenden Kriegswahnsinn ankämpften. Das waren Deutsche mit Anstand – etwas, was es, keineswegs nur zu dieser Zeit, in Deutschland nicht so häufig gab.

Diese Gruppe hatte einigen Zulauf; in der parteiunabhängigen linken Zeitschrift «Die Weltbühne» konnte man 1928 lesen: «Hier hat mindestens einmal alles gastiert, was schon mitten im Krieg Bedenken hatte gegen die Darstellungen der offiziellen Propaganda.» Doch das ging nicht lange gut: Im März 1916 wurde der «Bund Neues Vaterland» verboten, die Frauen kamen in Haft, die Männer an die Front – um dort den «Heldentod» zu finden.

Was hatten diese Menschen denn getan?

Es ging, wenn auch nicht ausschließlich, um den heute weitgehend vergessenen, seit 1891 bestehenden «Alldeutschen Verband». Er verfolgte ein Programm, das von Chauvinismus, Militarismus, Expansionismus, Rassismus und Antisemitismus geprägt war; nach Kriegsbeginn fand er in der Bevölkerung Deutschlands wachsenden Zuspruch. Nicht zuletzt deshalb hatte sich der »Bund Neues Vaterland« zur Aufgabe gestellt, «gegen die Kreise der Alldeutschen anzukämpfen» – mit Veranstaltungen und Broschüren.

Zum eigentlichen Ziel setzte sich der Bund jedoch «die direkte und indirekte Förderung aller Bestrebungen, die geeignet sind, die Politik und Diplomatie der europäischen Staaten mit dem Gedanken des friedlichen Wettbewerbs und des überstaatlichen Zusammenschlusses zu erfüllen, um eine politische und wirtschaftliche Verständigung zwischen den Kulturvölkern herbeizuführen».

Und, als wäre das noch nicht schlimm genug, forderte der Bund, selbstverständlich in gesetzten Worten, eine Demokratisierung Deutschlands: «Das ist nur möglich, wenn mit dem bisherigen System gebrochen wird, wonach einige Wenige über Wohl und Wehe von hunderten Millionen Menschen zu entscheiden haben.»

Ok, Gründe genug also, verboten und verfolgt zu werden. Kennt man heute noch jemanden von den elf Menschen, die den Bund gegründet hatten?

Wirklich bekannt ist nur noch Albert Einstein, der spätere Nobel-Preisträger für Physik. Als junger Mann hatte er, um in Deutschland keinen Militärdienst ableisten zu müssen, seine württembergische Staatsbürgerschaft abgelegt und war lieber staatenlos geworden; seit 1901 besaß er die Schweizer Staatsbürgerschaft und war dadurch vor dem Zugriff der Berliner Behörden geschützt.

Einige Ältere werden sich vielleicht noch an den späteren Regierenden Bürgermeister von West-Berlin, Ernst Reuter, erinnern. Auch er wurde von kaiserlichen Behörden an die Front geschickt, starb aber nicht den für ihn vorgesehenen Heldentod, sondern ging 1916 – in russischer Gefangenschaft – zu den Bolschewiki über; 1921 war er kurzzeitig Generalsekretär der KPD.

Die Initiatoren und Vorsitzenden des Bundes waren Kurt von Tepper-Laski und Otto Lehmann-Rußbüldt, sie sind heute nur noch Spezialisten bekannt. Für Lilli Jannasch und Emma Krappek sowie den Chefredakteur der Zeitschrift «Deutscher Sport», Georg Ehlers, den Diplomaten Hans Schlieben und den Rechtsanwalt Max Steinschneider findet man selbst unter den Spezialisten nur noch wenige Experten. Lediglich der Bankier Hugo Simon gerät in jüngster Zeit wieder etwas mehr in die Öffentlichkeit: Rafael Cardoso, sein brasilianischer Enkel, der erst im Erwachsenenalter erfahren hat, wer sein Großvater war, hat über ihn einen erfolgreichen Roman geschrieben: «Das Vermächtnis der Seidenraupen».

Unter den sich den Gründern schnell hinzugesellenden Gesinnungsverwandten befand sich nicht nur der Technische Direktor des Unternehmens «Telefunken» Georg Graf Arco, sondern auch Eduard Fuchs, der «Sittenfuchs» – in der Jugend hatte er als Anarchist und später als Sozialdemokrat mehrmals Bekanntschaft mit deutschen Haftanstalten gemacht. Durch die drei Bände seiner «Illustrierten Sittengeschichte», die jeweils durch einen – nur an den Haustüren von Akademikern zum Vertrieb zugelassenen – Bildband ergänzt wurden, war Fuchs zu dauerhaftem Wohlstand gelangt. In der Bibliothek des Reichstags waren sie zu Ende der 1920er-Jahre die am meisten ausgeliehenen Bücher. Der völlig unschwäbische, weil nicht geizige Schwabe Eduard Fuchs finanzierte nicht nur, gemeinsam mit Berlins Theater-Diva Tilla Durieux, die in «Schutzhaft» sitzende Rosa Luxemburg, sondern betrieb auch für den Bund mit den Kriegsgegnern im Ausland Geheimdiplomatie. Sein, auf Grund seines Akzentes angeblich grauenhaft klingendes, Französisch hatte er bei der Französischlehrerin Clara Zetkin, der Leiterin der Sozialistischen Frauen-Internationale, erlernt.

Wie ging es nach dem Weltkrieg weiter mit dem Bund?

Da der Krieg faktisch bereits verloren war, meldete sich der Bund im September 1918 – unerlaubt – in der Öffentlichkeit zurück. Anders als die SPD forderte er schon vor der Novemberrevolution Deutschlands Umwandlung in eine Republik und das Eingeständnis der deutschen Kriegsschuld, wenn auch nicht der alleinigen Kriegsschuld. Eine umfangreiche Publikations- und Veranstaltungstätigkeit setzte ein; die Broschüren des Bundes gingen weg wie geschnitten Brot.

Aber wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden nach der Novemberrevolution auch Mitglieder des Bundes ermordet: der Begründer des Freistaates Bayern Kurt Eisner ebenso wie Gustav Landauer – in der Revolution in Bayern für die Bildung verantwortlich; als erstes hatte er in den Schulen die Prügelstrafe verboten – sowie der damals sehr bekannte Ex-Offizier und Antimilitarist Hans Paasche.

Der Deutschland auf Jahrzehnte hin demütigende Diktatfrieden von Versailles stieß den Bund jedoch zurück in die Bedeutungslosigkeit. Geradezu galoppierend desavouierte der Rachefeldzug von Frankreichs Ministerpräsident Georges Clemenceau in Deutschland nicht nur Revolution, Republik, Frieden und sozialistische Idee als angebliche Verursacher der ab 1919 immer mehr Deutsche betreffenden Verelendung – Clemenceau trieb der deutschen Rechten, die im November 1918 über Nacht abgetaucht war, die Massen wieder zu: in Massen. Der einstige Militärdiktator von Gnaden Wilhelms II., Ludendorff tauchte 1919 in Deutschland wieder auf: als Propagandist eines Revanchekrieges.

Die publizistische Arbeit des «Bundes Neues Vaterland» brach in dieser Zeit zusammen. Erst 1921 erschien wieder eine erfolgreiche Publikation: Emil Julius Gumbels «Zwei Jahre Mord». Konkret ging es um die politischen Morde nach dem Ersten Weltkrieg, auch Fememorde genannt. Die Mörder kamen vielfach aus der «Schwarzen Reichswehr» – illegalen paramilitärischen Formationen, die ab 1919, unter Bruch des Versailler Friedensvertrags, von der offiziellen deutschen Reichswehr gefördert und zum Teil sogar unterhalten wurden.

Gumbel leuchtete in dieses schier undurchdringliche Geflecht aus Bürgerkriegsvorbereitung, geheimer Rüstung und Terrorismus immer wieder hinein. Mit diesem Buch wandte sich der «Bund Neues Vaterland» vom Weltkrieg ab und kam in der Nachkriegszeit an. Gumbels immer wieder aufgelegte Schrift wurde zum erfolgreichsten Buch des Bundes. Neben Albert Einstein wurde Gumbel zu dem Gesicht des Bundes und, ab 1922, dem der Liga für Menschenrechte.

… und aus Deinem Buch dann durfte ich erfahren, dass niemand in beiden deutschen Staaten Emil Julius Gumbel, als er 1966 starb, einen Nachruf schrieb! Wie aber wurde der Bund dann zur Liga für Menschenrechte und was für Aufgaben setzte sie sich?

Der wichtigste außenpolitische Punkt war für den Bund das Verhältnis zu den beiden großen Nachbarn Frankreich und Polen. Verschiedene Vertreter des Bundes fuhren mehrmals nach Paris und warben bei französischen Politikern, darunter Mitglieder der französischen Liga für Menschenrechte, für eine Politik der Verständigung. Es gelang ihnen das Unwahrscheinliche: Vertrauen aufzubauen.

Im Januar 1922 wandelten in Paris Vertreter des Bundes den Namen des Bundes in den der französischen Verbündeten um: «Liga für Menschenrechte». Im Mai 1922 bildeten beide zusammen die «Internationale Liga für Menschenrechte» – die zu einer weltweiten Organisation wurde.

Als Außenminister Gustav Stresemann (1878–1929) 1925 mit den Locarno-Verträgen und mit der an sie gebundenen Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund (10. September 1926) eine Entspannung im Verhältnis zu Frankreich gelang, war das keineswegs ausschließlich sein Verdienst. Nicht zuletzt Mitglieder des Bundes Neues Vaterland bzw. der Liga für Menschenrechte hatten dafür – als Teil eines zumeist unbekannten Deutschlands – den Boden bereitet.

Mit Polen hingegen strebten die bürgerlichen Parteien keinerlei Annäherung an; ein Krieg mit Polen war – nicht nur für die deutschen Militärs – lediglich eine Frage der Zeit. Im «Bund Neues Vaterland» widmete sich vor allem der bekannte Publizist Hellmut von Gerlach der Verständigung mit dem 1918 wieder entstandenen selbständigen Polen. Trotz aller Bemühungen, nicht zuletzt durch grenzüberschreitend arbeitende katholische Organisationen, gelang es der deutschen Friedensbewegung nicht, gegenüber Polen einer anderen deutschen Außenpolitik Wege zu ebnen. Erst 1970 wurde dies durch das ehemalige Mitglied der SAPD, Bundeskanzler Willy Brandt, erreicht.

Was geschah 1933?

1932/33 scheiterte in Deutschland alles, was links von der Mitte stand. Fast alle prominenten Mitglieder der Liga gingen spätestens 1933 ins Exil, von Einstein über Gumbel bis zu Kurt Tucholsky und den ehemaligen Anwälten von Rosa Luxemburg, Kurt Rosenfeld und Siegfried Weinberg. Nur Carl von Ossietzky fiel den Nazis in die Hände, die sich erst wieder öffneten, als Ossietzky schon im Sterben lag …

Lieber Jörn, wir danken Dir sehr für das Gespräch und hoffen, dass Du mit Deiner Zusammenstellung zur Deutschen Liga für Menschenrechte – einer so wichtigen wie leider ebenso noch unbekannten Vorläuferin auf dem Wege hin zur „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ – Türen zu einer weiteren Beschäftigung mit ihr aufgestoßen hast!