Nachricht | Zadoff: Gewalt und Gedächtnis; München 2023

Dreizehn Beispiele für die «Vielgestaltigkeit des Erinnerns»

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Mirjam Zadoff, seit 2018 Leiterin des Münchner NS-Dokumentationszentrums, möchte mit diesem Buch «beispielhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit» (S. 16) «kuratorische, künstlerische oder forschende Gedächtnisprojekte in Europa und der ganzen Welt» (ebd.) in ihrer «Vielgestaltigkeit des Erinnerns» (ebd.) vorstellen. Sie berichtet in dreizehn Beiträgen über den Umgang mit der Erinnerung an den Warschauer Ghettoaufstand1943 und an den Warschauer Aufstand1944 in Polen, die Erinnerung an die Shoa in der Ukraine, den Niederlanden und Italien. Ebenso ist der Umgang mit Kolonialismus und seinen Nachwirkungen in Belgien oder mit der jeweils eigenen, tief rassistischen Geschichte in Südafrika und den USA Thema. Aber auch hierzulande eher unbekannte Themen wie die Erinnerung an die von Japan ausgeübte Zwangsprostitutionvon Frauen in Korea oder die Massaker der Roten Khmer 1975-1979 in Kambodscha.

Zadoff hat all diese Gedächtnis-Orte auf der ganzen Welt besucht, beschreibt diese sehr anschaulich, ebenso wie die Menschen, die sie getroffen und gesprochen hat. Die Unterschiedlichkeiten, etwa die Bedeutung der Zivilgesellschaft, werden deutlich, es lassen sich aber auch Gemeinsamkeiten herauslesen, etwa dass es überall verschiedene Erzählungen über die Vergangenheit gibt, dass Erinnerung und Geschichtspolitik oft umstritten und umkämpft sind und immer einen starken Konnex zu Macht, Nation, Nationsbildung und Nationalismus haben.

Zadoff spricht von einer «globalen Erinnerungskultur» im 21. Jahrhundert. Sie beschreibt in eher feuilletonistischer als akademischer Art und Weise Orte und Diskurse von Erinnerungspolitik auf dem gesamten Globus, aber eine «globale Erinnerung» ist das nicht; und es wäre zu fragen, ob es eine solche gibt, geben kann oder sollte. Zadoff zeigt mit ihren Reportagen, dass viele Nationen sich mit ihrer sehr von Gewalt, Rassismus und Antisemitismus geprägten Geschichte beschäftigen. Sie kritisiert die rechte Erzählung, dass speziell der deutsche Volksbegriff und das damit zusammenhängende Konstrukt der «Überfremdung» eine nie existierende «Einheit und Homogenität der deutschen, europäischen Bevölkerung imaginiere»; und sie verweist darauf, welche Rolle Museen in den Prozessen der Anerkennung von Leid und Unterdrückung spielen und, so ihre Forderung, dies noch häufiger und tiefreichender könnten und auch sollten. Denn, so zitiert sie zustimmend JR, einen französischen Streetartkünstler mit afrikanischer Herkunftsgeschichte: Wenn du im Museum bist, bist du Teil der Gesellschaft und der Geschichte (geworden) (S. 215).

Zadoff reflektiert im lesenswerten Nachwort darüber, dass der Glaube an die Moderne, «die auf Humanisierung durch Erziehung und Aufklärung setzte» im 20. Jahrhundert «gründlich enttäuscht» wurde, und verweist in der Einleitung darauf, dass aktuell fast dreiviertel der Weltbevölkerung «unter autokratischen Regierungen» lebe (S. 14.). Dieses Buch wurde, wie viele andere, die derzeit noch erscheinen, noch vor dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 abgeschlossen. Das ist bei der Lektüre mitzudenken.

Mirjam Zadoff: Gewalt und Gedächtnis. Globale Erinnerung im 21. Jahrhundert; Hanser Verlag, München 2023, 238 Seiten, 25 Euro