Für den Geburtstag von Rosa Luxemburg am 5. März hatte ein Lehrer aus einer Berliner Schule ein Seminar für seine Schüler bestellt: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenken.“ Doch sechs Tage zuvor stornierte er seine Order. War doch die 1919 von Terroristen Gemeuchelte von etlichen Medien unterdessen in der Nähe der Roten Armee Fraktion ausgemacht worden: Die „junge Welt“ hatte ein Grußschreiben Christian Klars veröffentlicht, das auf der „Rosa-Luxemburg-Konferenz“, die die Redaktion dieser Zeitung alljährlich im Januar veranstaltet, verlesen worden war. Am gleichen Mittwoch schlug an einer anderen Berliner Schule ein junges Mädchen als Thema seiner Jahresarbeit die Novemberrevolution vor. Der arme Erzieher war in höchster Not. Über die Revolution, also über die RAF, werde er keine Arbeit betreuen ¬– so seine Antwort. Beide Lehrer haben die Bewährungsprobe bestanden. Immer auf Linie, immer bereit – nirgends anzuecken.
Rosa Luxemburg hatte zu Lebzeiten nie viele Freunde, aber mehr als genug Feinde – in allen Lagern. Dafür hat sie bezahlt. Gustav Noske (SPD) erklärte sich einverstanden mit ihrer Meuchelung. Ihre Mörder, (r)echte deutsche Männer in Uniform, feierten sich nach ihrer Heldentat. Eine Spitzenpolitikerin der KPD, für die Rosa Luxemburgs Auffassungen die Syphillis in der Abeiterbewegung bedeuteten, urinierte unter dem Gejohle ihrer „revolutionären Anhänger“ auf das Grab der Hingeschlachteten. Und Josef Stalin (KPdSU [B]) fand 1931 sogar den Mut, in dieses noch nicht geplünderte Grab zu spucken: Halbmenschewistisch sei die Polin gewesen; darauf stand in seinem Regime mindestens die Verwandlung in Lagerstaub.
In den vergangenen Jahrzehnten aber hatte Rosa Luxemburg fast nur noch „Freunde“ – zuerst in dem rechtskonservativen Milieu, in dem Jahrzehnte lang ihre Mörder geschützt worden waren, nach 1989 dann auch unter den Entmachteten, denen nichtsdestoweniger auch heute noch spätestens nach dem dritten Glas Bier Stalins Luxemburgismus-Verdikte aus dem Munde quellen.
Von der ersten Gruppe falscher Freunde ist Rosa Luxemburg nun befreit. Die Stichwortgeberin der friedlichen Revolution von 1989 wird an den Terror herangerückt. Alles, was an Veränderung der Gesellschaft erinnern könnte, gehört schließlich stigmatisiert.
Doch taugt Rosa Luxemburg wirklich zur geistigen Patin der RAF? Wohl ungefähr so viel, wie ihre Auffassungen die Herrschaft Walter Ulbrichts legitimierten: gar nicht.
Denn Rosa Luxemburg war der Terror ebenso verhasst, wie sie die Jakobiner-Herrschaft Lenins und Trotzkis ablehnte, die sie als „bürgerliche Diktatur“ begriff. Für sie waren das zwei Seiten einer Medaille: „Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder der öffentlichen Institutionen … im Grunde also eine Cliquenwirtschaft – eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d. h. Diktatur im bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobiner-Herrschaft … solche Zustände müssen eine Verwilderung des öffentlichen Lebens zeitigen: Attentate, Geiselerschießungen usw.“
Aber man muss gar nicht aus ihrem bis heute umstrittenen Fragment „Zur russischen Revolution“ zitieren. Man kann auch in ihre Arbeit „Was will der Spartakusbund?“ schauen, in der sie sich noch klarer ausdrückte: »In den bürgerlichen Revolutionen waren Blutvergießen, Terror, politischer Mord die unentbehrliche Waffe in der Hand der aufsteigenden Klassen.
Die proletarische Revolution bedarf für ihre Ziele keines Terrors, sie hasst und verabscheut den Menschenmord. Sie bedarf dieser Kampfmittel nicht, weil sie nicht Individuen, sondern Institutionen bekämpft, weil sie nicht mit naiven Illusionen in die Arena tritt, deren Enttäuschung sie blutig zu rächen hätte. Sie ist kein verzweifelter Versuch einer Minderheit, die Welt mit Gewalt nach ihrem Ideal zu modeln, sondern die Aktion der großen Millionenmasse der Volkes, die berufen ist, die geschichtliche Mission zu erfüllen und die geschichtliche Notwendigkeit in Wirklichkeit umzusetzen.“ So unmissverständlich hat sich bis 1989 nie wieder ein deutscher Partei-Kommunist von den Zuständen im „Vaterland der Werktätigen“ distanziert.
Die Arbeit „Was will der Spartakusbund?“ war übrigens keine etwa nebenbei hingeworfene Schrift. Sie wurde von Rosa Luxemburg dem Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands vorgelegt, der sie mit einigen unwesentlichen Änderungen, die nicht die hier zitierte Stelle betrafen, als sein Parteiprogramm bestätigte.
Um den Zusammenhang zwischen einer „Vorhutpartei“, also der Organisation einer avantgardistischen Minderheit, deren möglicher Verwandlung in eine Sekte und ihrem Hang zum Terror zu erkennen, bedurfte Rosa Luxemburg allerdings weder der Bolschewiki, geschweige denn ihrer Herrschaft. Schon 1897 hatte sie über die frühe polnische Partei „Proletariat“ geschrieben: „Der Mangel an einem unmittelbaren politischen und sozialpolitischen Programm machte es der Partei unmöglich, die Arbeitermassen, das Proletariat als Klasse in den Kampf hineinzuziehen. Das Verschwörertum war nie für Massen geschaffen, es legte immer die Aktion im Namen der Massen in die Hände einer Handvoll ihrer revolutionären Anwälte. Trat die Masse aus eigenem Antrieb auf die Bühne, so vermochte ihr die Partei nichts Praktischeres und Handgreiflicheres zu bieten als das eigene enge Sektendogma, die Vertröstung auf die ‚soziale Revolution’. Den gewerkschaftlichen Kampf verwarf sie als nutzlos und schrieb den Streiks eine revolutionäre Bedeutung nur dann zu, wenn es gelingen sollte, ihnen einen blutigen Ausgang zu geben. Angesichts dessen musste die Bewegung einen sektierischen Charakter annehmen und sich in die engen Schranken der Geheimzirkel fügen, in denen die allgemeinen sozialistischen Prinzipien und der Terrorismus gepredigt wurden.“
Rosa Luxemburgs Auffassungen über die Vertreibung jeglicher Unterdrückung und Ausbeutung aus der Gesellschaft wurden in der KPD nicht sofort vergessen gemacht. Zumindest Paul Levi, der erste Vorsitzende der Partei, konnte sich noch an diese Auffassungen erinnern: „Sie wusste den Kampf als Kampf, den Krieg als Krieg, den Bürgerkrieg als Bürgerkrieg zu führen. Aber sie konnte sich den Bürgerkrieg nur vorstellen als freies Spiel der Kräfte, in dem selbst die Bourgeoisie nicht durch Polizeimaßnahmen in die Kellerlöcher verbannt wird, weil nur im offenen Kampf der Massen diese wachsen, sie die Größe und Schwere ihres Kampfes erkennen konnten. Sie wollte die Vernichtung der Bourgeoisie durch öden Terrorismus, durch das eintönige Geschäft des Henkens ebenso wenig, als der Jäger das Raubzeug in seinem Walde vernichten will. Im Kampf mit diesem soll das Wild stärker und größer werden. Für sie war die Vernichtung der Bourgeoisie, die auch sie wollte, das Ergebnis der sozialen Umschichtung, die die Revolution bedeutet. War schon die Bekämpfung der Bourgeoisie im Polizeisinn ihrer Anschauung nicht entsprechend, so ist es kein Zweifel, wie sie diese Maßnahmen gegenüber proletarischen Teilen beurteilt hat.“ (1922)
Wer auch immer sich auf Rosa Luxemburg berufen mag, zu einem taugt sie nun wirklich nicht: Mit ihr lässt sich kein Terror rechtfertigen und schon gar nicht einer im Namen des Sozialismus.
Der Text von Jörn Schütrumpf wurde zeitgleich in der Zeitung Neues Deutschland veröffentlicht.