Publikation Geschichte - Parteien- / Bewegungsgeschichte - Globale Solidarität Im Gleichschritt: Sowjetunion und Kommunistische Internationale

Jörn Schütrumpf über Gründung, Scheitern und Ende der Komintern

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Erschienen

März 2019

Delegierte des II. Weltkongresses der Komintern am 19. Juli 1920

«Nach der Verhaftung habe ich bis zum 19.1.1938 ohne jegliches Verhör gesessen. Am 19.1.38 begann das Verhör, das 10 Tage und Nächte ohne jede Pause dauerte. Ohne Schlaf und fast ohne Nahrung musste ich die ganze Zeit stehen. Das Verhör bestand darin, mich der unsinnigsten Anschuldigungen zu bezichtigen, und war begleitet von Faust- und Fußschlägen. Nach 5 Tagen waren meine Beine so geschwollen, dass ich nur unter riesigen Schmerzen stehen konnte. Die Haut war geplatzt […,] in den Schuhen sammelte sich Blut. […] Man verlangte von mir zu unterschreiben, dass ich ein Spion und Terrorist sei und dass ich für Pjatnitcki im Ausland den rechtstrotzkistischen Block organisiert hätte. Davon ist kein Wort wahr. […] Im April 1938 wurde ich in das Lefortovo-Gefängnis am Stadtrand verlegt, hier liefen alle Verhöre der Beschuldigten auf schreckliche Verprügelungen hinaus. Wochenlang hat man mich Tag und Nacht schrecklich geprügelt. Auf dem Rücken hatte ich kein Stück Haut mehr, nur noch rohes Fleisch. Auf einem Ohr konnte ich wochenlang nicht hören, und mit einem Auge konnte ich wochenlang nicht sehen, weil die Blutgefäße im Auge kaputt geschlagen waren; ich bin oft ohnmächtig geworden. Inzwischen wurde ich herzkrank […]. Es gab Tage, an denen man mir 3–4 Morphiumspritzen verabreichte, und dennoch prügelte man nach den Spritzen weiter auf mich ein.«[1]

Das schrieb Hugo Eberlein, Mitbegründer der Kommunistischen Internationale, im November 1939 an seine Frau Charlotte Scheckenreuter. Die von ihren sowjetischen «Genossen« ebenso Drangsalierte wie von ihren deutschen «Genossen» dem Hungertod Preisgegebene war jedoch wenige Tage zuvor ins nationalsozialistische Deutschland geflüchtet – mit Hilfe der deutschen Botschaft in Moskau. Es war die Zeit des deutsch-sowjetischen «Grenz- und Freundschaftsvertrages», mit dem Hitler und Stalin am 28. September 1939 ihren Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 auf Kosten Polens und seiner baltischen Anrainer «ausgestaltet» hatten. Im Ruhrgebiet, ihrer Heimat, erwartete Charlotte Scheckenreuter die Gestapo; den Brief ihres Mannes hat sie nie erhalten…

Eine Übersetzung ins Russische liegt in einem Moskauer Archiv; Eberleins, in deutscher Sprache abgefasstes, Schreiben haben die russischen Auftraggeber seiner Leiden – wie im Einzelnen, ist ungeklärt – unzugänglich gemacht. Der hier zitierte Text ist eine Rückübersetzung.

Die Gründung der Komintern: Generäle ohne Truppen

Eberlein war zwanzig Jahre zuvor, Ende Februar 1919, mit einem «gebundenen Mandat» nach Moskau gereist. Für den Fall, dass die Bolschewiki versuchen sollten, eine neue Internationale zu gründen, hatte Rosa Luxemburg – sie war das intellektuelle Haupt der polnischen wie der deutschen Linken – Hugo Eberlein eingeschworen, gegen dieses Unterfangen zu stimmen. Rosa Luxemburg befürchtete einen von den Bolschewiki dominierten, wenn nicht gar kujonierten «Orden», Lenins «Partei neuen Typus» nachgebildet.

Leo Jogiches hatte Eberlein kurz vor dessen Abreise nach Moskau noch einmal nachdrücklich an Rosa Luxemburgs Auftrag erinnert. Der weltgewandte Revolutionär und Konspirateur Jogiches war nach Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts Ermordung am 15. Januar 1919 an die Spitze der «Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund)» gerückt – so der vollständige Name der am 30. Dezember 1918 gegründeten Partei. Die Ironie der Geschichte: Jogiches war ein erklärter Gegner der KPD-Gründung. Er leitete eine Partei, die er zutiefst ablehnte, weil er in ihr – anders als in der SPD und in der USPD – eine nicht lebensfähige Sekte sah, die früher oder später Beute der Bolschewiki werden würde.

Auf der Moskauer Konferenz (2. bis 6. März 1919) zählte Hugo Eberlein zu den wenigen Ausländern, die nicht nur ein Mandat mit beschließender Stimme vorweisen konnten;[2] mit der kleinen KPD vertrat er auch die einzige kommunistische Partei, die außerhalb Sowjetrusslands über eine erwähnenswerte Anhängerschaft verfügte. Die meisten Anwesenden waren Generäle ohne Truppen; oftmals taugten sie nicht einmal zum General.

Rosa Luxemburg und Leo Jogiches waren mit Blick auf Lenin und seine Bolschewiki gebrannte Kinder. Von 1906 bis 1912 hatten sie zusammen mit ihnen eine gemeinsame Partei betrieben und wussten, dass vor allem Lenin vor buchstäblich nichts zurückscheute, wenn er glaubte, der «Weltrevolution» dienen zu können. Isa Strasser, eine Aktivistin der frühen kommunistischen Bewegung, formulierte es so: «Ein eigensüchtiger, machthungriger Mensch opfert die Menschen seinen beschränkten persönlichen Zwecken. Lenin, besessen von dem Wahn, das Glück der Menschheit erzwingen zu können, opferte die Menschen seiner Idee. Ist die Wirkung nicht die gleiche?»[3]

Rosa Luxemburgs Verdacht bestätigte sich: Lenin hatte nach Moskau laden lassen, um eine neue Internationale zu gründen. Anders als die bei Weltkriegsausbruch 1914 jämmerlich gescheiterte Sozialistische Internationale, gegründet 1889, sollte die neue Internationale laborrein «bolschewistisch» und Lenin gegenüber folgsam sein. Tagelang wurde Hugo Eberlein von Lenin, Trotzki und Sinowjew umworben, bis sein Widerstand brach und er sich bei der Abstimmung der Stimme enthielt – Rosa Luxemburg und Leo Jogiches aber immerhin nicht vollständig verriet.

Zur gleichen Zeit wurde in einem Berliner Gefängnis von einem Mörder in deutscher Uniform auch Leo Jogiches hinterrücks erschossen. Sein Nachfolger hieß Paul Levi. Der Anwalt Rosa Luxemburgs war ein brillanter Kopf; neben seiner Mandantin war er während des Krieges der einzige, der für die Spartakusgruppe die von Leo Jogiches verbreiteten illegalen Schriften verfasst hatte. Levi, 1916/17 in der Schweiz mit Radek und Lenin eng verbunden – auch Lenins Kontakte zum deutschen Konsulat in Bern liefen über Levi –, wusste, dass er sich nicht als Parteiführer eignete, schon gar nicht als Führer dieser KPD. Hatte die doch auf ihrem Gründungsparteitag gegen die Stimmen der Spartakusgruppe die Teilnahme an Parlamentswahlen und die Mitarbeit in den Gewerkschaften abgelehnt. Als ein Politiker, der in den Parlamenten zwar nicht das Zentrum, aber doch einen unverzichtbaren Ort der Politik sowie in den Gewerkschaften einen Raum sah, in dem die Arbeiterschaft zum Bewusstsein ihrer selbst kommen könne, sah sich Levi ab Ende März 1919 der «Herausforderung» ausgesetzt, einer Antiparlamentarier- und Gewerkschaftsgegnerpartei sein Gesicht leihen zu sollen.

Da aber diese Partei fast das ganze Jahr 1919 verboten und ihre Anhänger vogelfrei waren, blieb der Spartakusflügel unter Levis Führung in der Partei – und an der Parteispitze. Auch der Anschluss an die Kommunistische Internationale wurde nach Eberleins Rückkehr nach Deutschland – stillschweigend – vollzogen.

21 Bedingungen für den Beitritt

Auf dem 2. Weltkongress der Kommunistischen Internationale im Sommer 1920 in Petrograd und Moskau wurden für das Präsidium Lenin, Radek, Levi und der Italiener Giacinto Menotti Serrati bestellt, der Kopf der großen italienischen Sozialistischen Partei, die als einzige linke Partei 1914 nicht auf einen Kriegskurs eingeschwenkt war und sich 1919 der Kommunistischen Internationale sofort nach deren Gründung angeschlossen hatte. Grigori Sinowjew, der offizielle Vorsitzende der Kommunistischen Internationale, zog aus der zweiten Reihe heraus die Strippen.

Auf dem 2. Weltkongress brachen die ersten großen Konflikte aus. Die Internationale war von Lenin als straff zentralisierte Weltpartei nach dem Vorbild der Bolschewiki gedacht; sie sollte – wie die Bolschewiki in Russland – in allen wichtigen Staaten die Macht an sich reißen und so die «Weltrevolution» verwirklichen. Zur Unterwerfung der ausländischen Parteien unter den Willen der Bolschewiki entwickelte Lenin speziell «21 Bedingungen»,[4] die er – seinen Nimbus als erfolgreicher Revolutionsführer nutzend – in einem wochenlangen Ringen den angereisten Delegierten aufzwang, soweit sie nicht entsetzt dem «Vaterland der Werktätigen» schnell wieder entflohen. Am widerständigsten traten unter den Verbleibenden Serrati und Levi auf.

Getreu Lenins Parteidoktrin verfolgten die Bolschewiki – egal wo – nicht die Beförderung einer selbstbewussten, handlungs- und entscheidungsfähigen Arbeiterschaft, die im Zuge von Niederlagen und Erfolgen einen Willen zur Macht ausbilden sollte, sondern die Rekrutierung einer Gefolgschaft, die lediglich umzulernen hatte: in Russland von einem orthodoxen Christentum auf einen, wie Rosa Luxemburg es nannte, «tatarische(n) Marxismus».[5] Das hatte zwar mit Sozialismus nichts zu tun, erwies sich aber in einem weitgehend vorkapitalistischen Agrarland für das Durchkämpfen einer tiefgreifenden Agrarrevolution als durchaus gangbarer Weg.

Um dem unvermeidlichen Abschmelzen ihrer Basis nach der Machtübernahme entgegenzuwirken, blieb den Bolschewiki – das Angebot an potentieller Gefolgschaft war in Russland halt rar – nur eine einzige Strategie: das Zusammengehen mit allen radikalisierten Kräften, egal unter welcher Führung sie standen, sowie: nach gemeinsam gewonnener Schlacht die Entfremdung der jeweiligen Basis von ihrer Führung und Übernahme der Basis bei gleichzeitiger Ausschaltung ihrer Führer. Exemplarisch setzten die Bolschewiki dieses Vorgehen 1920 bei der Zerschlagung der anarchistischen Machno-Bewegung um, deren Protagonisten sie – nach dem gemeinsamen Sieg über die Konterrevolution – erst militärisch niederwarfen und dann Reihe für Reihe abschlachteten, um danach der Machno-Führung mit der Neuen Ökonomischen Politik die Anhänger zu entziehen.

Das Scheitern der Komintern in Italien und Deutschland

Mit dieser Strategie fahndeten die Bolschewiki auch im Ausland, sei es in Italien, Deutschland, Frankreich oder Spanien, keineswegs nach traditionellen Sozialisten – die galten als reformistisch «unrein» –, sondern nach (in den offiziellen Bolschewiki-Verlautbarungen selbstverständlich als «unmarxistisch» verpönten) Syndikalisten, Anarchisten und frisch durch den Krieg radikalisierten Kräften.

In Italien sollten diese Kräfte durch Spaltung der großen sozialistischen Partei gewonnen werden. Da Giacinto Menotti Serrati, der Lenin und seinen Anhängern schon während ihres Exils in der Schweiz ein zuverlässiger Partner gewesen war, sich weigerte, seine eigene Partei zu zerstören, wurde eine Verleumdungskampagne in Szene gesetzt – die jedoch ihr Ziel verfehlte: Die Italienische Kommunistische Partei geriet zu einer Sturzgeburt, und die Mehrheit der italienischen Sozialisten wurde dauerhaft von der Kommunistischen Internationale entfremdet. Zugleich begann der Aufstieg des italienischen Faschismus, zu dem später auch der erste Vorsitzende der kommunistischen Partei, Niccola Bombacci, überlief, anfangs ein treuer Lenin-Anhänger; im April 1945 hingen an der Esso-Tankstelle auf dem Piazzale Loreto in Mailand Mussolini und Bombacci Seit an Seit.

Paul Levi beging keine mindere Sünde als Serrati. Er hatte im Oktober 1919 die Trennung der KPD von allen syndikalistischen Kräften durchgesetzt, die sich daraufhin mit der «Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands» (KAPD) eine eigene Partei geschaffen hatten. Diese Partei wollten die Bolschewiki um jeden Preis in die Kommunistische Internationale aufnehmen – wogegen Levi, der seit seinem unbotmäßigen Verhalten auf dem 2. Weltkongress von der Kommunistischen Internationale schief beäugt wurde, Sturm lief.

Als dann auch noch Moskauer Emissäre im März 1921 in Mitteldeutschland einen völlig sinnlosen Aufstand auslösten, den der preußische Staat binnen Tagen niederschlug, wurden alle gegen die Abenteuerpolitik protestierenden Kräfte aus der KPD ausgeschlossen, Paul Levi als erster. Mit viel russischem Geld wurde in den nächsten Jahren aus einer deutschen Arbeiterpartei eine russische Arbeiterpartei in Deutschland – ausgestattet mit «revolutionärer Disziplin», mit der sich alles rechtfertigen ließ: Doppelzüngigkeit, Übervorteilung und Irreführung.

An dem in Italien und in Deutschland geschaffenen Prototyp wurde die kommunistische Bewegung, soweit sie sich an der Kommunistischen Internationale orientierte, weltweit ausgerichtet: Spaltungen, «Säuberungen» und Putsche ersetzten eine langfristige, auf die Emanzipation der Arbeiterschaft gerichtete Politik.

Im Herbst 1923 unternahm die Kommunistische Internationale in Deutschland einen abermaligen Versuch, sich an die Macht zu putschen; das Desaster kostete die KPD-Parteiführer, die 1921 die von Moskau gewünschte Entfernung des Levi-Flügels exekutiert hatten, nun selbst den Job, wenngleich noch nicht die Mitgliedschaft.

Die Komintern nach Lenins Tod

Nach Lenins Tod im Januar 1924 – schon in den letzten Monaten seines Lebens hatte er keinerlei Einfluss mehr auf die Politik – brachen die Kämpfe um seine Nachfolge aus. Trotzki, 1917 der Organisator des Oktoberumsturzes sowie ab 1918 der Roten Armee, unterlag der Mehrheit der Bolschewiki-Führer um Sinowjew, Kamenew und Stalin. Da Trotzki bis in den Ersten Weltkrieg hinein Lenin und seine Anhänger bekämpft und sich erst im Frühsommer 1917 den Bolschewiki abgeschlossen hatte, wurde der Kampf gegen ihn, den Nicht-Bolschewik, und gegen seine anfangs durchaus zahlreichen Anhänger unter der Losung der «Bolschewisierung der Kommunistischen Internationale» geführt, die nun endgültig als Instrument der sowjetischen Außenpolitik gleichgeschaltet werden sollte.

Jedoch: Nicht nur Trotzki wurde entmachtet, als nicht minder gefährlich galt Rosa Luxemburg. Im Frühjahr 1925 verkündete Grigori Sinowjew:

«Die richtige Aneignung des Leninismus und seine praktische Aneignung beim Aufbau der kommunistischen Parteien in der ganzen Welt ist unmöglich ohne Berücksichtigung der Fehler einer Reihe angesehener Marxisten, die den Versuch machten, sich zur Anwendung des Marxismus unter den Verhältnissen der neuen Epoche aufzuschwingen, dabei jedoch nicht in allem Erfolg hatten.

Hierher gehören […] auch die Fehler Rosa Luxemburgs. Je näher diese politischen Führer dem Leninismus stehen, umso gefährlicher sind ihre Anschauungen in jenem Teile, in dem sie, weil fehlerhaft, mit dem Leninismus nicht übereinstimmen. […]

Ohne eine Überwindung der irrtümlichen Seiten des Luxemburgianertums ist eine wirkliche Bolschewisierung unmöglich. Allein der Leninismus vermag zum Leitstern kommunistischen Parteien der ganzen Welt zu werden. Alles, was vom Leninismus abweicht, stellt auch eine Abweichung vom Marxismus dar.»[6]

Schon ein Jahr später stürzten Sinowjew und Kamenew. Stalin und Nikolai Bucharin übernahmen das Ruder; letzterer wurde Vorsitzender der Kommunistischen Internationale. An die Stelle der Weltrevolution trat nun der «Sozialismus in einem Land»; im Nahen Osten und anderswo hieß kommunistische Politik fortan Unterstützung von «nationalen Befreiungsbewegungen». Das Bündnis, das die Kommunisten mit nationalistischen Kräften in China eingingen, endete in April 1927 im Shanghai-Massaker, bei dem die starke kommunistische Organisation und Basis weitgehend ausgelöscht wurden.

Die «Stalinsche Revolution»

Stalins Stärke bestand im Erkennen herannahender Gefahren sowie in ihrer Bekämpfung in einem Stadium, in dem sie noch beherrschbar sind. Die ersten Getreideboykotte der Bauernschaft kündigten 1927 an, dass sich die Periode des «Tanzes über den Klassen», auf den sich die Bolschewiki 1921 mit ihrer «Neuen Ökonomischen Politik» (NÖP) eingelassen hatten, dem Ende zuneigte. Damit war es Zeit für eine andere Politik – Zeit für die damals so gern «Zweite Revolution» genannte «Stalinsche Revolution».

Heraus kam eine Mischwirtschaft: Im Zeichen der Kollektivierung wurde in den Lagern die Staatssklaverei, vor allem im Bereich der extraktiven Industrien, exzessiv ausgebaut. Soweit die Bauern nicht verhungerten oder ermordet wurden – die Zahlen gehen in die Millionen –, wurden sie in eine zweite Leibeigenschaft gepresst, gegen die die zweite Leibeigenschaft in Preußen geradezu ein Ausbund an Humanität war. Wer nicht vor den Erschießungspelotons landete oder in der Staatssklaverei oder in der Leibeigenschaft zu vegetieren hatte und auch nicht am Hunger verendet war, konnte sich glücklich wähnen, wenn er Lohnarbeit, keineswegs jedoch als doppelt freier Lohnarbeiter, leisten durfte. Gegen die Erdhütten, die sich in den Neubaustädten viele Erbauer in den ersten Jahren zu graben hatten, waren die menschenfeindlichen Kommunalkas in den traditionellen Industriegebieten geradezu ein Privileg. Mit der einheimischen Bourgeoisie, die nach 1921 wieder begonnen hatte, sich zu bilden, wurde ähnlich wie mit der Bauernschaft verfahren. Die durch Enteignungen freigesetzten Mittel wurden in die Rüstungsindustrie kanalisiert.

Im Zuge dieses Schwenkes schaltete Stalin 1928/29 auch seinen bis dahin Verbündeten Bucharin als «Rechtsabweichler» aus. Um Stalins alleinige Macht abzusichern, wurden in allen «Sektionen» der Kommunistischen Internationale jene ausgestoßen, die sich nicht bedingungslos unterwarfen; in der KPD traf es fast alle Mitbegründer der Partei. Sinowjews Sozialfaschismus-These aus dem Jahre 1924 – die Sozialdemokratie sei der gefährlichste Flügel des Faschismus – wurde wieder hervorgeholt. Nicht nur wurde so jegliche Kritik aus der Sozialdemokratie heraus an Stalins Politik mit dem Faschismus-Verdikt belegt; auch alle Kommunisten sahen sich bei Kritik in diese Ecke und – vorerst noch platonisch – an die Wand gestellt.

Die Bolschewiki hatten eine eigene, die «neue Klasse» hervorgebracht, wie Milovan Djilas sie nannte.[7] Die saß an den Hebeln der Macht: als Funktionsträger in Staat, Wirtschaft, Verwaltung, Militär, politischer Polizei… Sozialismus in den Farben der Bolschewiki bedeutete nicht die solidarisch-kollektiv erkämpfte Emanzipation von jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung – was ursprünglich der Sinn von Sozialismus gewesen war –, sondern das Angebot an Willige, individuell sozial aufzusteigen.

Diese «neue Klasse» genoss ihren Sieg, auch als 1932/33 nach der «erfolgreichen Kollektivierung» Millionen Menschen verhungerten. Denn «neue Klasse» hieß: Pajok (Rationen für Privilegierte), hieß: Überleben – vorerst zumindest.

Ein totalitäres Regime, dem alle Insignien einer Zivilgesellschaft fehlen

Mit Hilfe der «neuen Klasse» wurde die Gesellschaft unterworfen und so die riskante bonapartistische Phase beendet. Statt der kapitalistischen Produktionsweise und einer vielleicht bürgerlichen Gesellschaft mit einem entsprechenden Rechtsstaat wurde 1927/28 der Staat entfesselt. Im Namen der «Arbeiter- und Bauernmacht» etablierte sich ein totalitäres Regime, das eine zu jeglichem Widerstand unfähige «klassenlose» Gesellschaft herbeizumorden suchte und dabei selbst die «neue Klasse» keineswegs schonte, sondern bevorzugt verheerte.

Unter der Losung «Sozialismus in einem Land» wurde ein Regime etabliert, das mit Terror eine egalitäre und zu jeglicher Form von Widerstand unfähige Gesellschaft systematisch zurichtete: Nach der Versklavung der Gewinnler der «Neuen Ökonomischen Politik» und der Bauernschaft kam die Garde der Revolution an die Reihe und schließlich jeder, der Individualität nicht zu verbergen vermochte, inklusive Polina Molotowa, die Frau eines der schlimmsten Massenmörder, von Stalins Außenminister und Kumpanen Wjatscheslaw Molotow.

Alle sozialen Beziehungen, soweit sie sich auf Vertrauen gründen, wurden absichtsvoll zerstört. Es entstand eine Gesellschaft der Gleichheit, allerdings einer Gleichheit in Unfreiheit, einer Gleichheit in der Angst, einer Gleichheit in der Bindungslosigkeit – letztlich eine Nichtgesellschaft, der alle Insignien einer Zivilgesellschaft fehlten. Hier herrschte der Maßnahmestaat in seiner totalen Entfesselung.

Die Funktionsweise der modernen Gesellschaft, ihre Gesetze, versuchte die Stalinsche Führung zu überlisten – indem sie sie außer Kraft zu setzen schien und ein neues Gesetz setzte. Die Revolution hatte ihr Flussbett verlassen, das Wasser sollte künftig bergauf fließen. Es war abermals der Versuch, Gott zu spielen.

Die Abschaffung aller Klassenmerkmale durch die Beseitigung ihrer Träger – sei es per Lager, sei es per Exekution – wurde zur Grundbedingung von Herrschaft. Es fand nicht die Emanzipation vom Klassendasein und von Klassenherrschaft statt – wie sie einem Karl Marx, einer Rosa Luxemburg und bis zu einem gewissen Grade auch einem Lenin vorgeschwebt hatte –, hier wurde Gesellschaft ersetzt durch ein Oben und Unten, vielleicht besser sogar: durch ein Drinnen und Draußen, zwischen dem der einzelne willkürlich hin- und hergeworfen werden konnte: heute Wärter, morgen Sklave; heute Sklave, morgen General; gestern Chef der Politischen Polizei, morgen Folteropfer. Die Rollen waren austauschbar und wurden getauscht.

Klassenlosigkeit nicht als Resultat großer Klassenauseinandersetzungen, sondern als Resultat des Wirkens eines allgegenwärtigen Polizeistaates, der als «Hauptinstrument der herrschenden Klasse» – gemeint ist hier nicht die stets vorgeschobene «Arbeiterklasse», sondern die tatsächlich herrschende Klasse: die «neue Klasse» der Partei- und Staatsbürokratie – eine angeblich sozialistische Gesellschaft «schuf». Diese Gesellschaft musste «geschaffen» werden, weil unter den obwaltenden Bedingungen eine Gesellschaft, die das Etikett «sozialistisch» rechtfertigte, sich nicht entwickeln konnte.

Entwickeln hätte sich unter den gegebenen Klassenverhältnissen nur eine kapitalistische Produktionsweise können – und zwar eine in sehr roher Form. Aber ebendiese Produktionsweise mit all ihren Weiterungen für die Gesellschaft galt es zu unterbinden – durch die Schaffung einer Staatswirtschaft und durch die Unterdrückung jeglicher Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft.

Der Staat schuf sich eine Basis; nicht die Basis einen Staat. Der Staat als Schöpfer, als Gott – der immer nur ein Teufel sein kann.

Noch ein Wort zur physischen Vernichtung der internationalen revolutionären Avantgarde ab Sommer 1936: Auch hierbei begegnete Stalin einer Gefahr, ehe sie unbezwingbar geworden war. Spätestens mit dem Rjutin-Papier vom Sommer 1932[8] war klar geworden, dass trotz aller Ausschlusswellen (erst gegen Trotzki und Anhänger, dann gegen Sinowjew und Anhänger, dann gegen Bucharin und Anhänger) immer wieder neue innerparteiliche Oppositionen entstehen würden.

Weil vor allem noch in der Leningrader Parteiorganisation Widerstand existierte, Lenins Verdikt aufzuheben, dass Kommunisten nicht Kommunisten hinrichten dürfen, wurde deren äußerst beliebter Kopf und Rivale Stalins, der Leningrader Parteichef Kirow – offiziell durch einen «Einzeltäter» – beseitigt. Mit diesem Mord waren gleich zwei Probleme gelöst: Kirow war aus dem Weg geräumt und der Widerstand gegen die Hinrichtung von Kommunisten gebrochen.

Der Bürgerkrieg in Spanien

Auf eines war die Stalinsche Bolschewiki-Führung allerdings nicht vorbereitet: Die Entwicklung in Spanien im Jahre 1936 traf die Moskauer völlig unvorbereitet. Nach der Abwehr des Putsches im Juli 1936 gegen die Volksfrontregierung in Madrid drohte in Spanien eine Revolution an Dynamik zu gewinnen, die geeignet schien, einen Sozialismus nicht-stalinschen Zuschnitts freizusetzen und so die entmachtete, aber noch lebende sowjetische Opposition mit einem starken Argument für ihre Rückkehr an die Macht auszustatten.

Zur Erinnerung: So wie die französischen Revolutionäre von 1789 hatten die Bolschewiki 1918 bis 1920 den (Bürger-)Krieg genutzt, um die soziale Revolution zu vertiefen und damit das Interesse der Arbeiter, vor allem aber der Bauern an einem Sieg im Bürgerkrieg immer weiter stabilisiert. Im spanischen Bürgerkrieg ab 1936 erzwangen die Bolschewiki genau die entgegengesetzte Politik: Die KP Spaniens wurde gepresst, die in Moskau ausgegebene Formel – erst Sieg im Bürgerkrieg, dann soziale Revolution – durchzusetzen. Wenige Monate vor dem Hitler-Stalin-Pakt war für die Bolschewiki die spanische Gefahr gebannt.

Wäre die Vernichtung der internationalen revolutionären Avantgarde von langer Hand geplant gewesen, hätte Stalin nie auf einen so idealen Angeklagten wie Victor Serge verzichtet – der als prominenter Anhänger Trotzkis seit 1933 in Haft gewesen war, aber im Frühjahr 1936 nach einer internationalen Kampagne hatte ausreisen dürfen. (Serge starb elf Jahre später in Mexiko unter ungeklärten Bedingungen.)

Stalins «Thermidor» und das Ende der Komintern

Mit der «großen Säuberung» von 1936 bis 1938 vollendeten die Bolschewiki den «Thermidor», der jede Revolution beendet. Das Außergewöhnliche war nur, dass Revolutionäre von einst – nur um an der Macht zu bleiben –, sich nicht zu schade waren, selbst zu Konterrevolutionären zu werden. Funktionäre und Mitglieder der Kommunistischen Internationale wurden zu Tausenden gefoltert und ermordet, darunter viele deutsche Emigranten und fast alle polnischen Emigranten; deren Partei, die KP Polens, wurde als «faschistische Partei» aufgelöst.

Kurz darauf der nächste «Umschwung»: Durch das Bündnis mit Nazi-Deutschland im August/September 1939 prostituierten die Bolschewiki nicht nur endgültig die sozialistische Idee, sondern gaben die Kommunistische Internationale der Lächerlichkeit preis. Zudem überließen sie Hitler, dem neuen Verbündeten, ganz Europa als Beute – bis der so stark war, sich auf die Sowjetunion zu stürzen. Die Kosten ließen die Bolschewiki die Völker der Sowjetunion zahlen. Sie und keineswegs Stalin – er heimste lediglich den Sieg ein – gewannen mit einem unvorstellbar hohen Blutzoll den Krieg.

Ohne das Bündnis mit den Vereinigten Staaten und Großbritannien wäre dieser Blutzoll noch höher ausgefallen. Stalin fiel es nicht schwer, die Bedrohung durch die Kommunistische Internationale zu beenden – zum einen war sie ohnehin längst keine mehr, zum anderen hatte sie für die USA und Großbritannien nie ernsthaft bestanden. Am 15. Mai 1943 wurde die Auflösung der Kommunistischen Internationale zum 10. Juni 1943 beschlossen.

Da war Hugo Eberlein schon seit anderthalb Jahren tot; er wurde am 16. Oktober 1941 wegen angeblicher Spionage und terroristischer Aktivitäten ermordet. Seine Mörder «rehabilitierten» ihn allerdings nicht nur schon 1956 – deren deutsche Satrapen durften noch im gleichen Jahr, geschmackssicher, wie sie waren, ein Wachregiment des DDR-Ministeriums für Nationale Verteidigung nach Hugo Eberlein benennen.


[1] Ruth Stoljarowa, Wladislaw Hedeler: «Deine Liebe zu unserer Sache hat dir wenig Freude und viel Leid gebracht.» Die junge Kommunistin Charlotte Scheckenreuter als Mitarbeiterin und Frau Hugo Eberleins in den 1930er-Jahren, aufgezeichnet nach den Akten in Moskauer Archiven, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Heft I/2008, S. 31 f

[2] Vgl. Wladislaw Hedeler, Alexander Vatlin (Hrsg.): Die Weltpartei aus Moskau. Der Gründungskongress der Kommunistischen Internationale 1919, Berlin 2008, S. 46 f.

[3] Isa Strasser: Land ohne Schlaf, mit einem Nachwort von Joseph Buttinger, Wien 1970, S. 108.

[4] U.a. wurde gefordert, die Parteien von «Reformisten und Zentrumsleuten» durch Spaltung zu «säubern», den Beschlüssen des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale zu folgen und Untergrundorganisationen aufzubauen. Vgl. Lenins 21 Punkte. Der II. Kongreß der III. Internationale in Moskau. Reden und Beschlüsse der Delegierten Lenin, Radek, Dr. Levi, Serrati, Berlin 1920.

[5] Rosa Luxemburg an Leo Jogiches, 10. August 1909, in: Gesammelte Briefe, Bd. 3, Berlin 1982, S. 65.

[6] Grigori Sinowjew: Über die Bolschewisierung der Parteien. Reden vor der Erweiterten Exekutive, März/April 1925, Hamburg 1925, S. 102, 104 (Hervorhebung vom Autor).

[7] Vgl. Milovan Djilas: Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems, München 1957.

[8] «Am 21. August 1932 fand im in der Nähe von Moskau gelegenen Dorf Golowino eine Versammlung statt, auf der die von Rjutin verfasste Plattform ›Stalin und die Krise der proletarischen Diktatur‹ diskutiert und angenommen wurde. Die Teilnehmer der Beratung beschlossen, ihre Organisation ›Bund der Marxisten-Leninisten‹ zu nennen. Außerdem wurde ein Manifest ›An alle Mitglieder der KPdSU(B)‹ angenommen. Darin wurde die schwierige Situation im Staat skizziert: ›Dem Staat ist der Maulkorb angelegt worden, überall herrscht Unrecht, Willkür und Gewalt, jeder Arbeiter und Bauer ist bedroht. Die revolutionäre Gerechtigkeit wird mit Füßen getreten!‹» Sorja Serebrjakowa: Die Heldentat von Martemjan Nikititsch Rjutin, in: UTOPIE kreativ, H. 81/82 (Juli/August) 1997, S. 105.