Das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus (HKWM) ist ein marxistisches Lexikon, das nach seiner Fertigstellung 15 Bände und über 1.500 Einträge umfassen wird. Von den bisher erschienenen neun Bänden in deutscher Sprache sind seit 2017 zwei Bände in chinesischer Sprache herausgegeben worden. Im Frühjahr 2019 hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung gemeinsam mit dem HKWM-Team die «Internationalisierung» des Lexikons auf Englisch und Spanisch vorangetrieben, um eine neue Generation marxistischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt für das Projekt zu gewinnen und seine Leserschaft und Reichweite zu vergrößern. Der unten stehende Eintrag ist Teil einer Auswahl dieser Übersetzungen, die auf unserer Website zur Verfügung gestellt werden.
Weitere Informationen über das Projekt und andere übersetzte Lexikon-Einträge finden sich in unserem HKWM-Dossier.
A: muǧtama‛ lāṭabaqī. — E: classless society.— F: société sans classes. — R: besklassovoe obščestvo. — S: sociedad sin clases. — C: wujieji shehui 无阶级社会
Die Vision einer kG bzw. der Wunsch, sie zu errichten, ist so alt wie die Klassenspaltung der Gesellschaft selbst. Wir finden sie bei jüdischen Propheten, chinesischen Gelehrten und altgriechischen Dichtern schon lange vor unserer Zeitrechnung. Auch spielt sie bei den meisten der sog. utopischen Sozialisten und ersten Kommunisten, wie etwa Gracchus Babeuf, eine Rolle. Ihnen allen ist gemeinsam die Abwesenheit bzw. Abschaffung von Privateigentum sowie Bedingungen weitgehender ökonomischer und gesellschaftlicher Gleichheit und umfassender Kooperation in der Produktion wie im Alltagsleben. Dagegen sind die politischen Verhältnisse in der so konzipierten kG von den verschiedenen Autoren und Schulen sehr unterschiedlich gedacht worden. Bei den einen herrscht strenge Diktatur der Vernunft, wie etwa bei Platon und Thomas Morus. Bei den anderen sind Staat und Zwang praktisch verschwunden, wie in Charles Fouriers Phalanstères oder Wilhelm Weitlings kommunistischen Siedlungen. Mit dem Übergang vom utopischen zum wissenschaftlichen Sozialismus durch Marx und Engels und ihre bedeutendsten Schüler ändert sich auch die Vision des Endziels. Dieses bleibt weiterhin die kG, die die wichtigsten gesellschaftlichen Übel der in Klassen gespaltenen Gesellschaft — Ausbeutung, Unterdrückung, Gewalt von Mensch gegen Mensch, Entfremdung der Arbeit, Vereinsamung der Menschen, Verkrüppelung seiner Fähigkeiten usw. — überwinden soll.
1. Insofern die Klassenherrschaft auf dem Privateigentum der Produktionsmittel beruht, ist die kG, d.h. der Sozialismus, eng gebunden an die kollektive Aneignung dieser Mittel. Doch wird dieses Endziel nicht mehr gesehen als die Verwirklichung eines vorher in Einzelheiten bereits ausgearbeiteten Plans oder Modells. Deshalb fehlen in den Werken von Marx und Engels solche Modelle überhaupt, und vergeblich wird man »Rezepte [...] für die Garküche der Zukunft« (K I, 23/25) suchen. Die historische Entwicklung selbst wird zum Hauptquell der Zukunftsgesellschaft erklärt. V.a. soll untersucht werden, wie »im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft« (Vorw 59, 13/9) selbst Kräfte und Entwicklungstendenzen frei- gesetzt werden, die die historische Möglichkeit einer kG erzeugen. Dazu gehören v.a. die Entwicklung der Produktivkräfte, die den allgemeinen Reichtum, d.h. die Befriedigung der Grundbedürfnisse durch materielle Güter, ermöglichen; arbeitsparende Technologie, die nicht-schöpferische, mechanische Arbeit durch Maschinen ersetzt; die Freisetzung eines wachsenden Anteils von Lebenszeit, die vom Zwang zur Subsistenzarbeit befreit ist; die Tendenz zur objektiven Vergesellschaftung der Arbeit (Kooperation); die wachsende Internationalisierung des Wirtschaftslebens; der steigende Schulungs- und Qualifikationsgrad der Produzenten; die zunehmende Vereinheitlichung der Kultur im Weltmaßstab; die materielle Möglichkeit, jegliches Klassen- und Gruppenmonopol im Zugang zu Kultur, Wissen, Informationen usw. zu überwinden; das Aufkommen einer Gesellschaftsklasse — des modernen Proletariats —, die die positiven Fähigkeiten besitzt, die Gesellschaft auf Basis der freien Assoziation (assoziierte Produktion und gesellschaftliche Selbstverwaltung) zu reorganisieren. Die Schaffung der kG wird konzipiert als Endergebnis der real ablaufenden Klassenkämpfe und Auseinandersetzungen in der bürgerlichen Gesellschaft.
Selbstverständlich ist für Marx und Engels die künftige kG keine Rückkehr zur urkommunistischen, sondern eine neue Gesellschaft, die alle Errungenschaften der modernen Zivilisation in sich aufhebt. Andererseits kehren in ihr manche Aspekte der urgeschichtlichen Gemeinschaft wieder: Produktion von Gebrauchswerten zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse; Abwesenheit von Privateigentum, Klassen-Hierarchie, Patriarchat und Staat; auf Gleichheit beruhende, solidarische Verhältnisse — wobei in einer »höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit [...] verschwunden ist«, auch der »enge bürgerliche Rechtshorizont« mit seiner Gleichheit vor dem Gesetz überwunden werden muss: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« (Gotha, 19/21) Die künftige kG ist für Marx und Engels keine Gesellschaft ohne Widersprüche und Kämpfe, ohne Politik und ohne Geschichte: als Ende der »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft« (Vorw 59, 13/9) und Anfang der freien menschlichen Geschichte eröffnet sie eine neue Epoche, in der diese Widersprüche nicht mehr durch Klassenherrschaft und staatliche Unterdrückung bearbeitet werden.
2. Lenin interessiert sich, unmittelbar vor der Oktoberrevolution, für den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus. Dass die neue Gesellschaft »aus dem Kapitalismus hervorgeht«, wie er im Anschluss an Gotha und Bürgerkrieg schreibt, bringt ihn zu dem Problem, auf »Grund welcher Unterlagen [...] die f rage nach der künftigen Entwicklung des künftigen Kommunismus« aufgeworfen werden kann (SR, LW 25, 471). Die »Demokratie nur für die Reichen« (476) soll durch die »Diktatur des Proletariats«, die »zum erstenmal ein Demokratismus für die Armen« (475) sein wird, ersetzt werden: als Voraussetzung für die kommende »kommunistische Gesellschaft«, in der die »von der kapitalistischen Sklaverei [...] befreiten Menschen [...] die elementaren [...] Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens [...] ohne den besonderen Zwangsapparat, der sich Staat nennt«, einhalten werden (476).
Für Trotzki liegt der »befreiende Sinn der Diktatur des Proletariats [...] darin, dass sie ein kurzes — vorübergehendes — Mittel zur Säuberung des Weges und Grundlegung der Ecksteine der neuen kG [...] darstellt« (Literatur und Revolution, Wien 1924, 124; vgl. Essen 1994, 196). In dem Maße, wie dann der politische Kampf in der kG hinfällig wird, können die »freigewordenen Leidenschaften« in eine Erneuerung von Kultur und Kunst investiert werden. »Sämtliche Lebenssphären« werden »jeden einzelnen und alle zusammen aufs lebhafteste interessieren«, und wenn es noch »Parteien« gibt, so nur »in Fragen eines neuen Riesenkanals oder der Verteilung der Oasen der Sahara [...], der Regelung des Wetters und des Klimas, eines neuen Theaters, einer chemischen Hypothese, der verschiedenen Richtungen in der Musik« (151/228Í).
3. Mit den konkreten Erfahrungen in den bisher bestehenden Übergangsgesellschaften (bzw. den Ländern des >real existierenden Sozialismus<) griffen auch die Diskussionen über den Inhalt der kG weit über das bei Marx und Lenin in Ansätzen Vorhandene hinaus. Dabei müssen zwei Hauptrichtungen unterschieden werden: Die apologetische Richtung, die durch zahlreiche Schriftsteller in der SU und der DDR vertreten wurde, die sich damit begnügten, bestehende Zustände bzw. Entwicklungstendenzen zu extrapolieren. So wird die »sozialistische Selbstverwaltung« als durchaus kongruent mit dem Fortbestehen, ja sogar mit der Stärkung des Staates (einschließlich seines Repressionsapparats) angesehen. Der Widerspruch zwischen dem Fortbestehen von Warenproduktion bzw. der Ausweitung der Ware-Geld-Beziehungen und der Verwirklichung einer kG wird bestritten. Das Problem der Menschenrechte, des politischen Pluralismus, der Abschaffung jeglicher Form von Zensur und Beschränkung im Zugang zu den Medien und der Möglichkeit kulturellen Schaffens wird nicht als Bedingung der freien Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit gesehen usw. Die kritische Richtung, die in der SU selbst bei den oppositionellen Kommunisten (der Arbeiteropposition, Trotzki, der Linken Opposition, der Bucharin-Strömung) entstand, sich dann im Westen auf die unabhängigen Kommunisten ausdehnte (Karl Korsch, Heinrich Brandler, Isaac Deutscher, Ernest Mandel, Pierre Broué, Tony Cliff) und bei den Theoretikern des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (Edvard Kardelj) sowie unabhängigen jugoslawischen Marxisten (der Praxis-Gruppe), den selbständigen osteuropäischen Marxisten (Karel Kosik, Andras Hegedüs, Wlodzimierz Bruz), gewissen Eurokommunisten und chinesischen Marxisten immer mehr Relevanz erhält. Die kG gewinnt bei dieser Richtung einen heuristischen Wert, der es ihr erlaubt, sowohl die spätkapitalistischen Gesellschaften als auch die Widersprüche des >real existierenden Sozialismus< in der Perspektive ihrer Überwindung zu denken.
Ernest Mandel
II. In der marxistischen Philosophie des 20. Jh. spielt die kG eine wichtige Rolle: Sie ist die entscheidende soziale Grundlage für das, was Ernst Bloch als »Wunschlandschaft« beschreibt (PH, Kap. 40 u. 41), die seit Jahrhunderten als »Prinzip Hoffnung« die menschlichen Kämpfe für Befreiung und Gerechtigkeit antreibt. »Marx setzt wenig mehr als den kargen, wenn auch gewaltig vom Bisherigen abgrenzenden Begriff kG«; gerade weil »Marxens ganzes Werk der Zukunft dient [...], einer nicht utopisch-abstrakt aus- gemalten« (GA 5, 725), können eigentliche Bezeichnungen der Zukunft fehlen. Bei Walter Benjamin erscheint die kG als »unsere Aufgabe«, die darin besteht, den »wirklichen Ausnahmezustand« herbeizuführen, der den real existierenden »Ausnahmezustand», in dem wir leben, überwindet (1940, These VIII, GS 1.2, 697). Im Gegensatz zu einer Sozialdemokratie, die von einem linearen, technokratischen Fortschrittsbegriff ausging, begriff Benjamin die kG nicht als das zwangsläufig sich einstellende Resultat des Fortschritts in der Geschichte, sondern als »Stillstellung des Geschehens« (703), Aufsprengung des »Kontinuums der Geschichte« (702), die »unablässig Trümmer auf Trümmer häuft« (697). Der Rekurs auf eine »kG« sei für den Historiker unabdingbare Instanz einer »Prüfung«, ohne die es »von der Vergangenheit nur eine Geschichtsklitterung« gibt (1.3, 1245).
Seit der Auflösung der SU 1991 hat sich die Diskussion um eine kG von den Problemen des >real existierenden Sozialismus< entfernt. Die wichtigsten Prägen der jetzigen Auseinandersetzungen sind: 1. Gleichheit, Freiheit und Demokratie in der kG; 2. die Überwindung von Macht und Staat in einer kG; 3. das Verhältnis zwischen der Aufhebung der Klassenherrschaft und den anderen Formen von Herrschaft: Patriarchat, ethnische und rassistische Unterdrückung, Sexismus, zerstörerische Herrschaft über die Natur. Mit anderen Worten, die Abschaffung der Klassen wird aufgefasst als notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung für eine freie menschliche Entwicklung und für ein neues, von Ausbeutung freies Verhältnis zur Umwelt.
Ernest Mandel & Michael Löwy
→ Abbau des Staates, Absterben des Staates, Anarchie, Aneignung, Antizipation, Assoziation, Ausbeutung, Automation, Befreiung, Demokratie, Diktatur des Proletariats, disponible Zeit, Egalitarismus, Elemente einer neuen Gesellschaft, Entfremdung, Fortschritt, Fourierismus, freie Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Herrschaft, herrschaftsfreie Gesellschaften, jugoslawischer Sozialismus, kategorischer Imperativ, Klassenherrschaft, Kommunismus, Kooperation, Naturbeherrschung, Novum, Oben/Untcn, Patriarchat, Privateigentum, Rassismus, Revolution, Selbstverwaltung, Sozialismus, Unmittelbarkeitskommunismus, Unterdrückung, Urkommunismus, Utopie, utopischer Sozialismus, Vorgeschichte