Lange hieß es, soziologische Klassenbegriffe taugten nicht mehr zur Analyse moderner Gesellschaften und ihrer sozialen (Verteilungs-)Konflikte. Doch seit einiger Zeit ändert sich das wieder: Grund dafür sind die zunehmenden Ungleichheitsverhältnisse durch soziale Polarisierung, ökonomische Entsicherung und die gesellschaftlichen Krisen der vergangenen Dekaden. So nennt, global gesehen, mittlerweile das reichste ein Prozent mehr Besitz sein Eigen als die ärmeren 6,9 Milliarden Menschen auf diesem Planeten (Oxfam 2020). Und diese Polarisierung vertieft sich fortwährend: Allein während der Corona-Pandemie im Jahr 2020 stieg das Vermögen von Milliardär*innen um 12 Prozent an, das der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung sank im selben Zeitraum um 11 Prozent. Auch auf nationaler Ebene finden sich seit geraumer Zeit analoge Entwicklungen (Milanović 2016: 46 ff.; Piketty 2013: 237 ff.). Die Bundesrepublik ist hier keine Ausnahme – davon zeugen neben soziologischen Analysen (Butterwegge 2020; Mayer-Ahuja/Nachtwey 2021) nicht zuletzt journalistische Einblicke in die Arbeits- und Lebensbedingungen der modernen »Working Class« (Friedrichs 2021).
Jakob Graf promoviert an der Friedrich-Schiller-Universität Jena zu sozial-ökologi-
schen Konflikten in Chile und Indien.
Kim Lucht ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der FSU Jena.
John Lütten promoviert ebendort zu Gesellschaftsbildern in der deutschen Arbeiterschaft.
So verwundert es nicht, dass soziale Ungleichheit und periodisch auftretende Krisen inzwischen wieder vermehrt zum Gegenstand politischer und sozialwissenschaftlicher Diskussionen geworden sind. Lange tabuisiert, wird die Rede von Armut und »Kapitalismus« wie auch seine Erforschung allmählich wieder populärer. Eine monumentale Studie wie Thomas Pikettys »Das Kapital im 21. Jahrhundert« beispielsweise hat es zum internationalen Bestseller gebracht und eine breit geführte Debatte über Kapitalismus und soziale Ungleichheit entfacht. Selbst in den neoliberal dominierten Wirtschaftswissenschaften werden mittlerweile heterodoxe Ansätze eingefordert.
Die gegenwärtigen historischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Umbrüche lassen sich allerdings mit den Begriffen bislang prägender Paradigmen wie »Individualisierung« oder »Globalisierung« nicht mehr fassen, sondern erfordern unseres Erachtens eine Rückbesinnung auf einen – neu justierten – Klassenbegriff. Denn dass es sich bei den genannten Entwicklungen nicht nur um dramatische Ungleichheits-, sondern um Klassenverhältnisse handelt, ist eine Grundthese der Autor*innen im vorliegenden Band. Diese Ungleichheitsbeziehungen unterscheiden sich dadurch von anderen, dass sich ein kausaler Zusammenhang ausmachen lässt, der das Glück der Starken mit der Not der Schwachen verbindet (Boltanski/Chiapello 2005: 373 ff.).
In diesem Kontext findet seit einigen Jahren eine neue Debatte über Klassen und Klassenpolitik statt, die sich nicht auf die wissenschaftliche Diskussion oder die klassische Linke beschränkt, sondern auch in den bürgerlichen Feuilletons und Medien geführt wird: Unter dem Titel »Die Lagen der Nation« beispielsweise widmete Zeit Online dem Thema soziale Klassen im Frühjahr 2021 einen ganzen Schwerpunkt, und das öffentlich-rechtliche Deutschlandradio kündigte jüngst an, die »Working Class« im Jahr 2022 zum Gegenstand einer ganzen Sendereihe zu machen. Dabei fällt auf, dass unter »Klassen« sehr verschiedene Dinge verstanden werden. Breite und Intensität der neuen Debatte markieren eine Suchbewegung, die sich nicht zuletzt aus der Notwendigkeit speist, die Krisen- und Entwicklungsdynamik kapitalistischer Gesellschaften heute neu auf den Begriff zu bringen.
Dabei ist der Klassenbegriff einer von mehreren zentralen Begriffen kritischer Gesellschaftsforschung, die analog zu den Krisendynamiken der vergangenen Dekade in die öffentliche Diskussion zurückgekehrt sind. Die Wiederkehr von Begriffen wie Krise, Kapitalismus, Ausbeutung – selbst schon Ausdruck gesellschaftlicher Veränderung – nahm ihren Ausgang bei der Debatte über Prekarisierung und die Existenz einer »Unterschicht« im Nachgang der »Agenda 2010«-Reformen sowie der Finanz- und Wirtschaftskrise ab dem Jahr 2007. Der Aufstieg rechtspopulistischer bzw. rechtsradikaler Parteien und Bewegungen in Europa, in den USA, aber auch in Ländern wie Brasilien oder Indien sowie ihre Erfolge bei ärmeren Wählerschichten und in Teilen der Arbeiterschaft, die traditionell der politischen Linken zugerechnet wurden, haben ferner eine Repräsentationskrise bisheriger Politik auch von sozialdemokratischen und linken Parteien offenbart. Die ökonomischen, politischen und sozialen Entwicklungen machen deutlich: Die soziale Frage, und damit auch die Frage nach sozialen Klassen, stellt sich heute wieder neu. [...]
Das ganze Buch kann kostenfrei als PDF herunterladen oder beim Campus Verlag bestellt werden.
Inhalt
- Einleitung
- Klassen- und Geschlechterverhältnisse: Zur Aktualität feministischer Klassentheorie und -politik
- Klasse im Kontext von Rassismus
- Der ökologische Gesellschaftskonflikt als Klassenfrage: Konvergenzen, Divergenzen und Wechselwirkungen von Klassen- und Naturverhältnissen
- Elemente einer Kritischen Klassentheorie: Der Klassenbegriff in »der« Kritischen Theorie
- Neue Unsicherheit – neue Gegenwehr? Die Prekarisierung der Klassenverhältnisse
- Klassenverhältnisse in den Peripherien des Weltsystems
Das Buch erschien im Campus Verlag (232 Seiten | Februar 2022 | ISBN 9783593513591 | EUR 30.00) und wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanziert.
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